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Forschungsprojekt mit Tübingern im Kampf gegen seltene Krankheiten

Mit einer Spezialpipette entnimmt eine Gentechnik-Expertin Flüssigkeit aus einem Probenbehälter. FOTO: DPA
Mit einer Spezialpipette entnimmt eine Gentechnik-Expertin Flüssigkeit aus einem Probenbehälter. FOTO: DPA
Mit einer Spezialpipette entnimmt eine Gentechnik-Expertin Flüssigkeit aus einem Probenbehälter. FOTO: DPA

TÜBINGEN. Erstmals in Europa haben Hunderte von spezialisierten Experten in dem Projekt SOLVE-RD, darunter Forschende vom Tübinger Institut für Medizinische Genetik und Angewandte Genomik und der Neurologischen Universitätsklinik, gemeinsam Daten von Patientinnen und Patienten mit unbekannten seltenen Krankheiten aktiv geteilt und analysiert.

Entstanden sind aus der wissenschaftlichen Zusammenarbeit eine Reihe von Forschungsarbeiten, die heute im European Journal of Human Genetics veröffentlicht wurden. Sie beschreiben die neu geschaffenen Strukturen, die einen optimalen Austausch von Fachwissen erlauben. An SOLVE-RD sind Datenwissenschaftler, Genomik-Experten, erfahrene Kliniker und Genetiker aus den Europäischen Referenz-Netzwerken (ERNs) beteiligt. In einer begleitenden Publikation werden die ersten Ergebnisse des Ansatzes, seltene Erkrankungen durch Re-Analyse von Genom-Phänomen-Daten zu lösen, beschrieben.

Seltene Krankheiten sind gar nicht so selten. Während die Anzahl der Menschen, die von einer bestimmten seltenen Krankheit betroffen sind, äußerst gering ist (einer von 2.000), leiden in Summe allein in Europa etwa 30 Millionen Menschen an einer seltenen Erkrankung. Schätzungsweise haben mehr als 70 Prozent der seltenen Krankheiten eine genetische Ursache. Betroffene Patientinnen und Patienten haben häufig einen langen Leidensweg hinter sich. Sie verbringen Monate, Jahre oder gar ihr ganzes Leben auf der Suche nach der richtigen Diagnose. So bleibt etwa die Hälfte aller Patienten selbst nach einem fortgeschrittenen Diagnoseverfahren wie etwa das »Whole Exome Sequencing« ohne Diagnose. Bei diesem Verfahren werden alle Exons, das heißt die für Proteine kodierenden Abschnitte im Erbgut, untersucht.

Aber nicht nur die Diagnosestellung ist knifflig, auch die Erforschung dieser Krankheiten kann lange dauern, da es schwer ist, eine ausreichende Anzahl von Menschen mit derselben seltenen Krankheit zu finden, die als Basis für die wissenschaftliche Erforschung benötigt werden. Verbesserte genetische Diagnoseverfahren sind notwendig, um seltene Krankheiten noch effektiver zu diagnostizieren, was eines der Hauptanliegen von SOLVE-RD ist.

Über SOLVE-RD - Diagnose der Zukunft

Das Hauptziel von SOLVE-RD ist es, die molekulare Ursache dieser unbekannten und seltenen Krankheiten zu finden. Der Weg dazu führt über eine innovative klinische Forschungsumgebung, die zwei Hauptansätze verfolgt: die groß angelegte Re-Analyse der Daten von mehr als 19.000 Patienten mit unbekannten seltenen Krankheiten und neuartige, kombinierte -omics-Analysen. Omics-Analysen sind Methoden zur Untersuchung der Gesamtheit verschiedener molekularer Komponenten. Zum Beispiel wird bei Genomics Analysen das gesamte Genom untersucht, bei Transcriptomics Analysen die gesamte vorhandene mRNA, oder bei Metabolomics Analysen die Stoffwechselprodukte. Sie liefern wichtige Ansatzpunkte in der personalisierten Medizin, denn durch diese Analysen entstehen große Datenmengen, die Rückschlüsse auf Krankheiten oder Prädispositionen zulassen. 

SOLVE-RD umfasst auf europäischer Ebene die vier Referenznetzwerke (ERNs) für seltene neurologische Erkrankungen (RND), seltene neuromuskuläre Erkrankungen (EURO-NMD), angeborene Fehlbildungen und seltene intellektuelle Entwicklungsstörungen (ITHACA) sowie genetische Tumorrisikosyndrome (GENTURIS). Mehr als 300 Kliniker, Forschende und Patientenvertreter an 51 Standorten aus 15 Ländern arbeiten in dem EU-Flaggschiff der EU-Förderlinie HORIZON 2000 zusammen. Die Experten betreuen jährlich mehr als 270.000 Patienten mit seltenen Krankheiten.

Systematischer europaweiter Datenaustausch und kollaborative Analyse

Mindestens zwei Strategien ermöglichen es, die diagnostische Ausbeute des »Whole Exome Sequencing« zu verbessern: die regelmäßige Re-Analyse der Daten und die Kombination und gemeinsame Analyse von großen Datenmengen. SOLVE-RD nutzt beide Strategien und verknüpft Expertise und Daten effektiv. Dazu arbeiten Datenwissenschaftler und Genomik-Experten für die Datenanalyse zusammen; die Kliniker und Genetiker aus jedem ERN für die erkrankungsspezifische Daten-Interpretation. Projektpartner und assoziierte ERN-Zentren steuern Datensätze von Patienten mit seltenen Krankheiten bei, die nach einer Exom- oder Genom-Sequenzierung noch nicht diagnostiziert wurden. Diese Datensätze werden analysiert, z. B. mit Hilfe von EU-finanzierten Ressourcen wie der »RD-Connect Genome-Phenome Analysis Platform« ( https://platform.rd-connect.eu ).

Neue technologische Ansätze ermöglichen dabei eine sichere, schnelle und kostengünstige automatisierte Re-Analyse der Tausenden von nicht diagnostizierten Patienten und deren Angehörigen. Schon die erste vorläufige Daten-Re-Analyse hat 255 Fälle aus etwa 4.500 Familien diagnostiziert. Der Austausch von Daten und Wissen trägt dazu bei, neue Krankheitsgene zu finden und Patientinnen und Patienten aus ganz Europa zu diagnostizieren. (pm)