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Erstmals in Europa: Maßgeschneiderte RNA-Therapie in Tübingen

Der fünfjährige Poyraz mit seinem Tübinger Behandlungsteam (von links) Professor Matthis Synofzik, Professorin Rebecca Schüle u
Der fünfjährige Poyraz mit seinem Tübinger Behandlungsteam (von links) Professor Matthis Synofzik, Professorin Rebecca Schüle und Dr. Nadja Kaiser. FOTO: LISA GRAF/PRIVAT
Der fünfjährige Poyraz mit seinem Tübinger Behandlungsteam (von links) Professor Matthis Synofzik, Professorin Rebecca Schüle und Dr. Nadja Kaiser. FOTO: LISA GRAF/PRIVAT

TÜBINGEN. Poyraz leidet an Ataxia telegiectasia, einer sehr seltenen und schweren Erkrankung, die mit einem fortschreitenden Verlust der Geh- und Stehfähigkeit einhergeht. Der Fünfjährige hat jetzt eine genbasierte Therapie erhalten, die speziell auf seinen individuellen Genfehler maßgeschneidert wurde. Bislang steht keine Therapie zur Verfügung.

Ein Forschungsteam hat einen kurzen RNA-Schnipsel, ein sogenanntes Antisense-Oligonukleotid (ASO), entwickelt, der passgenau auf seine Genmutation zugeschnitten ist. Er soll in seinen Nervenzellen der Mutation entgegenwirken und ihnen dabei helfen, ein fehlendes Eiweiß wiederherzustellen. Ziel ist, den Krankheitsverlauf zu verlangsamen oder gar vorübergehend aufzuhalten. Bislang verträgt der Patient die Behandlung gut. An dem Heilversuch ist ein Team vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung, der Medizinischen Fakultät Tübingen, dem Zentrum für Seltene Erkrankungen und der Kinderklinik des Uniklinikums Tübingen beteiligt.

Nervenzellen sterben ab

»Während der Schwangerschaft und im ersten Lebensjahr schien mit Poyraz alles normal zu sein«, berichtet seine Mutter. »Mit 13 Monaten begann er zu laufen. Sein Gleichgewicht war nicht gut, aber wir dachten, das sei vorerst normal. Als er 18 Monate alt war, wurden die Probleme deutlicher. Er schwankte, wenn er stillstand, und er lief lieber, als dass er ging. Zu diesem Zeitpunkt beschlossen wir, einen Kinderneurologen aufzusuchen.«

Nach einigen Monaten und vielen Tests erhielten Poyraz und seine Familie schließlich die Diagnose: Ataxia telegiectasia, kurz AT. Bei dieser sehr seltenen Erkrankung sterben Nervenzellen ab, die für die Koordination der Bewegung zuständig sind. In Folge verlieren Betroffene meist im Jugendalter die Fähigkeit, frei zu gehen und sind ab dem frühen Erwachsenenalter pflegebedürftig.

Grund für die Erkrankung ist eine angeborene Veränderung eines Gens, eine sogenannte Mutation. Durch die Mutation können Zellen ein bestimmtes Gen nicht mehr richtig »ablesen«. »Das löst eine ganze Abfolge an fehlerhaften Vorgängen in den Zellen aus«, erklärt Professor Matthis Synofzik.

»An einer Stelle im Prozess wird ein wichtiges Eiweiß in nicht ausreichendem Maß gebildet. Das führt langfristig zum Tod der Zellen. Bislang gibt es keine Therapie, die an der Ursache der Erkrankung ansetzt«, sagt der Neurologe. Er ist Forschungsgruppenleiter am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung.

Revolutionärer Ansatz

Gemeinsam mit einem internationalen Forschungsteam schlägt Synofzik nun einen innovativen Weg ein. Im Reagenzglas stellten die Wissenschaftler sogenannte Antisense-Oligonukleotide, kurz ASO, her. Dabei handelt es sich um kurze RNA-Stückchen. Die Forschenden haben sie so kreiert, dass sie sich genau über die mutierte Stelle im Erbgut des Patienten legen können. Dadurch können die Zellen das Gen wieder korrekt ablesen und das wichtige Eiweiß wird in normalem Umfang hergestellt.

»Das maßgeschneiderte ASO ist so individuell, dass es nur diesem Patienten helfen kann – ganz ähnlich wie ein Schlüssel in nur ein Schloss passt und nicht in mehrere. Eine zweite Person mit Ataxia telegiectasia, deren Genmutation leicht verschieden ausfällt, benötigt ein anderes ASO«, so Synofzik. Die Forschenden nennen ihr Forschungsprogramm daher »Eine Mutation, eine Medizin« und arbeiten eng mit einem transatlantischen Netzwerk zusammen.

Partner des Boston Children Hospital und der Harvard Medical School (USA) stellten in diesem Fall das ASO für den Patienten her. Die ersten vier Dosen erhielt der Junge daher in den USA. Im September bekam er dann in der Tübinger Kinderklinik die erste Erhaltungsdosis. »Das ASO wird künftig alle drei Monate über eine Spritze direkt ins Nervenwasser injiziert«, erklärt Kinderärztin Andrea Bevot vom Zentrum für seltene neurologische Erkrankungen. »Bei Kindern wird es im Rahmen einer kurzen Betäubung gegeben, sodass Poyraz es gar nicht mitbekommt. Bei Erwachsenen geht es auch ohne Betäubung. Nervenwasserpunktionen sind in der Neurologie ein Routineverfahren.«

Baukasten für ähnliche Fälle

»Dieser maßgeschneiderte, hochindividualisierte Ansatz ist revolutionär in der Medizin«, so Synofzik. Normalerweise verlaufe die Entwicklung eines Medikaments gemäß eines fest geregelten und langwierigen Prozesses, der Untersuchungen mit Zellkulturen, Tierversuche und Patientenstudien umfasse.

Dieser Weg eigne sich aber nicht immer bei seltenen Erkrankungen. »Bei diesen Erkrankungen gibt es vielleicht kein passendes Tiermodell oder die Patientenanzahl ist so gering, dass klassische Studien schlicht nicht möglich sind«, führt Professorin Rebecca Schüle vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung aus.

»Auch können wir bei den schweren seltenen Erkrankungen keine zehn bis 15 Jahre warten, die der übliche Entwicklungs- und Zulassungsprozess im Regelfall dauert«, sagt sie. In diesen Fällen blieben diese Erkrankungen und schwer Betroffenen dann oftmals ohne Therapien. »Die individualisierte Entwicklung eines Medikaments und ihre Anwendung über den Weg des individuellen Heilversuchs bleibt hier der einzige Ausweg.«

Um künftig anderen Patienten mit seltenen erblichen Erkrankungen helfen zu können, erstellt das Forschungsteam nun eine Art Baukasten. Dieser soll die Entwicklung weiterer individueller ASO-Therapien unterstützen, so Synofzik: »Die Grundbausteine der jeweils für den einzelnen Patienten zugeschnittenen ASO-Therapien sind stets ähnlich.«

Das bedeutet: Die Therapien sind einerseits hoch individuell – und doch zugleich generalisierbar. »So können wir bei künftigen Fällen auf bereits vorhandenes Wissen und Techniken zurückgreifen, und schneller einen individuellen Wirkstoff für andere Personen bereitstellen, die eine spezifische passende Mutation haben.« Die nächsten ASO sollen daher auch nicht mehr über den US-Partner, sondern direkt in Tübingen, Heidelberg und Leiden entwickelt werden. (em)