TÜBINGEN. Fragt man Martin Rosemann, was ihn in den vergangenen Legislaturperioden am meisten bewegt hat, dann fallen ihm zwei Menschen ein, denen er ganz konkret helfen konnte: Einen Mann haben er und sein Team vor der Obdachlosigkeit bewahrt, einer Frau hat er wieder zu Leistungen von der Arbeitsagentur verholfen. Das Leben der sozial Schwachen hat ihn nie kalt gelassen. Die Erfahrung, dass Menschen unterschiedliche Ausgangslagen haben und deshalb auch unterschiedliche Unterstützung benötigen, hat sein politisches Leben bestimmt. »Das Thema Gerechtigkeit war für mich immer wichtig«, sagt Rosemann. Das habe ihn schon früh zur SPD geführt.
Seine politische Karriere hat er im SPD-Ortsverein Tübingen begonnen und über den SPD-Kreisverband und Landesverband fortgesetzt. Er war Vorsitzender der SPD-Fraktion im Tübinger Gemeinderat, später Vorsitzender der SPD-Landesgruppe in Baden-Württemberg und ist seit 2013 im Bundestag. Dort ist er seit zwei Jahren Sprecher für Arbeit und Soziales. Ein Leben, geprägt von der Politik.
»Ich wollte nie aus dem Bundestag in die Rente gehen. - Martin Rosemann«
as wird sich nun ändern. Seinen Rückzug begründet Rosemann als erstes mit privaten Gründen. Er will mehr Zeit mit seiner Familie verbringen können. Außerdem: »Ich wollte nie aus dem Bundestag in Rente gehen.« Nächstes Jahr werde er 49 Jahre alt. Gerade noch Zeit genug um mit einer Vier am Anfang ein neues Betätigungsfeld zu finden.
Das zu kurz gekommene Privatleben ist aber nicht alles. Die Leidenschaft für das politische Geschehen habe nach 30 Jahren abgenommen, sagt Rosemann. Zeit also, für einen Wechsel. Es schwingt da durchaus Frust mit. »Das Verständnis für die anderen geht immer mehr verloren«, hat der Tübinger beobachtet. Das liege nicht zuletzt an den sozialen Medien. »Ich bin ein großer Fan vom Stammtisch«, sagt der Sozialdemokrat. Der Austausch finde dort direkt an einem Tisch von Angesicht zu Angesicht statt. Ganz anders im Internet. »Wenn du dort in deiner Blase bist, widerspricht dir niemand.« Rosemann beklagt die fortschreitende Individualisierung. Begegnungsräume seien tendenziell weniger geworden. Corona habe da noch als Beschleuniger gewirkt. Es sei einfacher geworden, über andere abwertend zu reden. Auch wenn er selbst nie eine Drohung bekommen habe, hat er das durchaus von anderen mitbekommen.
»Ich bin ein großer Fan vom Stammtisch. - Martin Rosemann«
Der Ton ist rau geworden. Die Art und Weise, wie mittlerweile politische Auseinandersetzungen geführt werden, missfällt dem Abgeordneten. Auch das ist einer der Gründe, weshalb er nun anderen das Feld überlässt. »Es gibt junge Leute, die die Leidenschaft mitbringen für solche Debatten.« In der Flüchtlingsdebatte wisse er manchmal nicht mehr, ob Abgeordnete von der CDU oder AfD reden. So ähnlich seien sich die Beiträge einiger Abgeordneten geworden.
Es ärgert ihn, dass von der Regierung nur die Streitereien wahr genommen werden. »Wir haben den Hebel in Richtung erneuerbare Energien umgestellt, wir haben Bürokratie abgebaut und in die Bahn investiert, wie nie zuvor«, betont der Sozialdemokrat. Rosemann will zwar aufhören, aber erst bringt er tatkräftig die Legislaturperiode zu Ende. Da gibt es noch genug zu tun. »Jetzt müssen wir erstmal das Rentenpaket durchsetzen, danach kommt das Tariftreue-Gesetz.« Von abgeklungener politischen Leidenschaft ist da nichts mehr zu spüren.
Bevor Rosemann hauptberuflich in die Politik gegangen ist, hat er neun Jahre lang beim Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung gearbeitet. Dort war er Projektleiter und beschäftigte sich mit Arbeitsmärkten, sozialer Sicherung, demografischem Wandel, Armuts- und Reichtumsforschung. Ein politischer Kopf wird er auch nach dem Ausscheiden aus dem Bundestag bleiben, so viel ist klar. Auf einen Neubeginn freut er sich: »Bei mir kommt bestimmt was Gutes nach.«