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Unterwegs in der Tiefsee und im Eis

Meeresbiologin Antje Boetius über die Verletzlichkeit der Erde und die Verantwortung der Wissenschaft

Der norwegische Polarforscher Fridtjof Nansen ist das große Vorbild von Antje Boetius. Mit seinem Schiff »Fram« war der Norweger
Der norwegische Polarforscher Fridtjof Nansen ist das große Vorbild von Antje Boetius. Mit seinem Schiff »Fram« war der Norweger von 1893 bis 1896 in der Arktis unterwegs. Die Meeresbiologin kam auf Einladung des Rhetorik-Seminars nach Tübingen. FOTO: WALDERICH
Der norwegische Polarforscher Fridtjof Nansen ist das große Vorbild von Antje Boetius. Mit seinem Schiff »Fram« war der Norweger von 1893 bis 1896 in der Arktis unterwegs. Die Meeresbiologin kam auf Einladung des Rhetorik-Seminars nach Tübingen. FOTO: WALDERICH

TÜBINGEN. Dort, wo Antje Boetius forscht, ist es absolut dunkel. In die Tiefsee dringt kein Tageslicht vor, dafür leuchten die zahlreichen Bewohner. Es funkelt und blitzt, erzählt die Meeresbiologin und zeigt das Bild eines zauberhaften Anglerfisches, der mit vielen Leuchtfäden umgeben lautlos durch das Wasser gleitet. Fast 50 Expeditionen in die Tiefsee hat die Forscherin schon geleitet. Am Donnerstagabend füllte sie locker einen Hörsaal im Tübinger Kupferbau, sodass der Vortrag in einen weiteren Raum übertragen werden musste. »Deutschlands bekannteste Meeresbiologin«, so kündigte Olaf Kramer vom Tübinger Seminar für Allgemeine Rhetorik die Wissenschaftlerin an.

Boetius hat sich mit ihrem Beruf einen Kindheitstraum erfüllt. Die Filme von Jean-Michel Cousteau, Lotte und Hans Hass haben ihre Kindheit geprägt. Mit großer Leidenschaft erzählt sie von ihrem Forschungsgebiet, einer Region der Erde, die nach wie vor kaum erforscht ist. Im Weltall seien mehr Menschen gewesen, als in der Tiefsee, berichtet die Meeresbiologin. Dabei ist das der Bereich mit der größten Vielfalt des Lebens. »Unser Planet Erde ist uns seltsam unbekannt.«

»Wozu brauchen wir Einmaltüten, die 500 Jahre halten?«

Wer ganz weit in die Tiefe hinabtauche, sehe die Verletzlichkeit der Erde mit einem ähnlichen Blick wie der Astronaut im Weltall, vermutet Boetius. Sie spricht über seltsam anmutende Tiefseebewohner, die ihre Revierkämpfe allein über das gegenseitige Messen der Fangarme ausmachen. "Ich steh’ total auf Kraken." Sie spricht über Seegurken, die sich den lieben langen Tag mit Meeresschlamm vollstopfen, über methanfressende Mikroorganismen – ihr Steckenpferd. Sie spricht aber auch über die Getränkedosen und Plastiktüten, die sie schon als Studentin 1992 mitten aus dem Pazifik ans Tageslicht befördert hat. Sie spricht von der Tiefseefischerei, die den empfindlichen Meeresboden zerstört, von der Erwärmung der Erde, die das weiße Schutzschild schmelzen lässt. Ihrer Wissenschaft haftet nicht nur das Abenteuer an, sondern auch die Verantwortung. "Wissenschaftler müssen Haltung zeigen", betont die Meeresbiologin. »Wozu brauchen wir Einmaltüten, die 500 Jahre halten?«, fragt sie in das große Publikum. "Unsere Generation hat es geschafft, die gesamte Erde mit einer Schicht Plastik zu überziehen." Das unverwüstliche Material sei überall angekommen, in der Tiefsee und im Eis.

»Wir haben es geschafft, die Erde mit einer Schicht Plastik zu überziehen«

Apropos Eis. Tiefsee- und Polarforschung zu verbinden, hat die Biologin schon immer sehr fasziniert. Das Wasser unter dem Eis des Nordpols sei voll von Leben. Nur wenig Hoffnung gibt es für viele Tiere dort, die sich an den extremen Lebensraum angepasst haben. Das Eis schmilzt, schneller als es die Forscher je erwartet hätten. Und deshalb plant das Alfred-Wegner-Institut, dessen Direktorin sie ist, die größte Forschungsexpedition in die Arktis, die es je gegeben hat.

So wie das große Vorbild von Boetius, der norwegische Polarforscher Fridtjof Nansen, wollen die Wissenschaftler ihr Schiff ein Jahr lang einfrieren lassen, um sich dann mit der Meeresströmung driften zu lassen. Insgesamt 600 Teilnehmer wird die Expedition haben. Ein riesiger Aufwand. Aber wozu das alles? »Wir müssen die Winter verstehen«, sagt Boetius. »Wir müssen verstehen, was passiert, wenn es das Eisschild der Erde nicht mehr gibt.«

Das Eis schmilzt mittlerweile auch in der Antarktis. Aktuelle Daten könne die Nasa allerdings aufgrund des Regierungsshutdowns in den USA nicht liefern. »Wird unsere Erde irgendwann aussehen wie der Mars oder schaffen wir es, das anders hinzubekommen?« Das ist die große Frage, die die Meeresbiologin antreibt. Nach dem Tübinger Vortrag hat sie sich dafür gleich wieder auf Reisen begeben. Das Ziel: die Antarktis. (GEA)