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Corona-Solidarität von den Jungen in Tübingen

Die »Initiative Grundversorgung« will dezentral für die geschlossene Tübinger Tafel einspringen

Grundversorgung als Tafel-Ersatz: bei der »NASE« im französischen Viertel mit den Stadträtinnen Dorothea Kliche-Behnken (SPD) un
Grundversorgung als Tafel-Ersatz: bei der »NASE« im französischen Viertel mit den Stadträtinnen Dorothea Kliche-Behnken (SPD) und Aski Kücük (AL-Grüne). FOTO: BERNKLAU
Grundversorgung als Tafel-Ersatz: bei der »NASE« im französischen Viertel mit den Stadträtinnen Dorothea Kliche-Behnken (SPD) und Aski Kücük (AL-Grüne). FOTO: BERNKLAU

TÜBINGEN. »Die Menschen brauchen doch trotzdem Essen«, sagt die Koordinatorin Miriam. Dass auch in Tübingen die Tafel vergangene Woche wegen des Coronavirus ihren Laden an der Eisenbahnstraße schließen musste, war das Startsignal für eine »Initiative Grundversorgung«. Es kam aus dem Rathaus. Bürgermeisterin Daniela Harsch und die Dorothea Kliche-Behnke von der SPD-Fraktion, selber Vereinsmitglied bei der Tafel, hatten die Idee, dezentral für Ersatz zu sorgen.

Die Jugendorganisationen aller Parteien waren sofort dabei, die Aktivisten von »Food Sharing«, »Fridays für Future« und der Deutsche Alpenverein, der seine Kleinbusse zur Verfügung stellte. Binnen weniger Tage entstand über soziale Medien die Initiative, der sich neben Mitgliedern des Gemeinderats und städtischen Mitarbeitern zunächst 60, am Dienstag schon weit über 100 Freiwillige angeschlossen hatten, vor allem Schüler und Studenten. Sie beschaffen von Läden und Supermärkten ausgemusterte Lebensmittel, sortieren sie und bringen sie zu sechs Stellen im ganzen Stadtgebiet, wo sie kostenlos an Bedürftige abgegeben werde.

Noch überschaubarer Betrieb

Asli Kücük, die Vorsitzende der AL/Grünen-Fraktion, hat am Bahnhofsvorplatz ihre bald abrissreife, aber bis zur Corona-Zwangsschließung noch gelegentlich für Events genutzte Location »Goldene Zeiten« zur Verfügung gestellt, die einstige »Parkgaststätte«. Die Bildungsreferentin packt auch kräftig mit an in ihrer Freizeit. Dort war am Montag zwischen 14 und 17 Uhr ein erster Probelauf. Da war zunächst noch wenig Zulauf zu verzeichnen. Bald aber, wenn sich die Sache herumgesprochen hat, hoffen die Freiwilligen auf regen Betrieb.

Seit Dienstag sind nun auch die anderen Ausgabestellen – dezentral, um Menschenansammlungen zu vermeiden – wochentags für die drei Nachmittagsstunden geöffnet. An die Stuttgarter Straße im Süden hat der Bürgertreff »NaSe« seinen für alles Übrige geschlossenen Raum zum Lebensmittelladen umfunktioniert. Miriam, die 27-jährige Bio-Ethik-Absolventin, hat die Verbindung hergestellt und ist für die Koordination zuständig.

Finja, Studentin der Erziehungswissenschaften, sorgt auch dafür, dass die Kunden einzeln zur einen Tür eintreten und den Raum nach dem Kauf zur anderen Tür wieder verlassen. »Jeden Tag melden sich viele neue Freiwillige«, weiß sie. Von Paprika über Pilze bis zu Pastinaken sind vielerlei Gemüse appetitlich angerichtet, sogar grüner Spargel und jede Menge Radieschen im Bund; dazu Salate und Obst: Äpfel, Bananen, Trauben. Noch gibt es nur wenige Becher Fruchtjoghurt und nur eine Packung des begehrten Mehls. Aber Ziel beim Angebot ist das Grundsortiment der Tafel.

Bei der Kinder- und Jugendfarm in Derendingen läuft die Aktion ebenso an wie im Stadtteiltreff Wanne, Beim Herbstenhof 3. Das Brückenhaus des Neckarwehrs ist ebenso zum Lebensmittel-Verteiler geworden wie der Gemeindesaal der St. Petrus-Kirche in Lustnau. Die Freiwilligen sorgen für den empfohlenen Abstand von zwei Metern. Wo vorhanden und verfügbar, nutzen sie auch Mundschutz. Die Tafel musste nicht zuletzt deshalb schließen, weil rund 80 Prozent ihrer ehrenamtlichen Helfer ältere Menschen waren und damit zu den Corona-Risikogruppen gehörten. Jetzt versuchen vor allem junge Leute die Aufgaben zu übernehmen. Die Stadt stellt Ressourcen zur Verfügung: Uwe Seid, Koordinator für Senioren und Inklusion beim Sozialamt, widmet sich jetzt hauptsächlich dem neuen Projekt.

Ausgabe auf Vertrauensbasis

Da kein Geld verlangt wird, beschränken die Helfer der »Initiative Grundversorgung« die Abgabe auf »haushaltsübliche Mengen«. Das sei »erst mal Vertrauenssache«, sagt Dorothea Kliche-Behnke. Vanessa Ball, 29-jährige Alleinerziehende, die beiden Kinder sind gerade beim Vater, hat keine Probleme, einer Großfamilie auch mal größere Mengen auszugeben, wenn eine Mutter sagt, zu Hause seien noch weitere Kinder. Gemeinsam mit dem 14-jährigen Uhland-Gymnasiasten Benedikt Döllmann von »Fridays for Future« managt sie in ihrer Dienstagsschicht die Ausgabe in den »Goldenen Zeiten«.

»Sehr froh« sei man über die Initiative, sagt Reinhard Seibert, Vorsitzender der Tübinger Tafel, die voraussichtlich bis zum 17. April geschlossen bleibt. Aski Kücük und Dorothea Kliche-Behnke appellieren an die Supermärkte und Läden, den jungen Nachfolgern auf Zeit »dasselbe Vertrauen zu schenken wie den Tafel-Freiwilligen«. Die Stadt hat ihnen provisorische Ausweise ausgestellt. Sie versorgten in Tübingen bis vergangene Woche rund 700 Berechtigte plus deren Angehörige, also mindesten 1 500 Menschen, als regelmäßige Kunden, sagt die SPD-Gemeinerätin. An den blauen Plastikkisten könne man sie erkennen: Die hat die Tafel zur Verfügung gestellt. (GEA)