Man muss zugeben, die Infrastruktur könnte besser sein, man denke nur daran, dass man oft über eine halbe Stunde warten muss, um mit öffentlichen Verkehrsmitteln in die nächstgelegene sogenannte Stadt, Bad Urach, zu gelangen. Wenn der allmonatliche Großeinkauf ansteht, muss man schon ein vollgetanktes Auto zur Hand haben. Die fünfzehnminütige Fahrt kostet einen dann schon mal um einen halben Liter Treibstoff. Das sind monatlich etwa 1,70 Euro, aufs Jahr bezogen 20 Euro! Da muss man eben ein paar High Heels weniger kaufen, braucht man ja sowieso nicht auf der Alb.
Die nächste Grundschule liegt drei Kilometer entfernt, die nächste Werkrealschule vier und das Gymnasium und die Realschule liegen in Bad Urach, also wieder sechs Kilometer von Hengen.
»Handyempfang hat man so gut wie keinen, man ist also nie erreichbar, wenn die Schwiegermutter was zu nörgeln hat«Handyempfang hat man auch so gut wie keinen, man ist also nie erreichbar, wenn die Schwiegermutter wieder irgendetwas zu nörgeln hat. Wäre es da nicht einfacher, in der Stadt, in Urach zu leben? Anscheinend muss doch ein großer Vorteil des Landlebens existieren. Bad Urach ist vielleicht auch nicht das beste Beispiel für eine Stadt mit sehr guter Infrastruktur, aber egal.
Nein, es gibt keinen einzelnen großen Vorteil gegenüber dem Stadtleben, es gibt unendlich viele. Fangen wir mit der wirtschaftlichen Seite an: Der Quadratmeter Baugrundstück kostet in Hengen rund 130 Euro, in der Stadt, ist der Preis um vieles teurer, er liegt bei rund 170 Euro. Es ist klar, dass eine Familie mit zwei Kindern die billigere Variante bevorzugt und sich dann ein schönes kleines Eigenheim bauen kann.
»Die Kinder sehen, dass Kühe nicht lila sind, und dass das, was hinten rauskommt, keine Schokolade ist«Auch an die Aussicht muss gedacht werden. Wohnt man in Urach, sieht man vielleicht außer Nachbars Klofenster und der zugegebenermaßen beeindruckenden Ruine - die übrigens von den ehemaligen Bewohnern der Stadt selbst zerstört wurde, was auch nicht gerade für die Intelligenz dieser Leute spricht, aber das ist wieder ein anderes Thema - nichts als Häuser, Straßen und Dachplatten. Das einzige Grüne in einer Stadt ist das allseits bekannte Verkehrszeichen, das unterste, am meisten Glückshormone verursachende Ampellicht. In Hengen sieht man grüne Wiesen, gelbe Getreidefelder, bunten Wald, kann durch die wunderschöne, noch nicht verpestete Umwelt wandeln und muss keine Angst haben, den sprichwörtlichen Grauen Star zu bekommen.
Die Kinder sehen auch, dass Kühe eigentlich nicht lila sind, und dass das, was hinten rauskommt, keine Milka-Schokolade ist. Sie können den Spatzen beim Stibitzen und den Elstern beim Fressen zuschauen - oder doch umgekehrt?! Man kann live beobachten, wie und wo unser täglich Brot wächst. Und wenn man sein Kind endlich mal ruhigstellen will, soll es doch einfach dem Gras beim Wachsen zuhören, das muss man in der Stadt erst mal welches finden! Nun werden einige Stadtbewohner auf den Geruch hinweisen, den die vermeintliche Schokolade verursacht, doch das gehört eben dazu. Das ist auch etwas, was die Kinder heute nur noch von sich selbst oder ihren Geschwistern kennen. Liebe Kinder: das ist ganz normal, so riecht das bei allen Lebewesen! Und natürlich wiegt die allseits bekannte Landluft den Gestank wieder auf. Es ist kein Mythos, dass Landluft heilsam wirkt. Probieren Sie's aus!
»Wenn man von seiner Frau rausgeschmissen wird, braucht man keine Angst vor dem Hungertod zu haben«Für Erwachsene gibt es ebenso wie für Kinder mehr Spielkameraden und Kumpels, da man hier viel schneller Kontakte knüpfen kann. Wenn in Hengen ein neues Gesicht samt Kind und Kegel herzieht, darf es spätestens beim nächsten Dorfhock Salz auf die Laugenwecken streuen, was eine nicht zu vernachlässigende Arbeit ist. Wer will auch Wecken ohne Salz? Man sieht also wieder: Hengen braucht die neuen Einwohner dringend! Auch sonst wird man quasi gleich interviewt, ob von Groß oder Klein. Jeder Alteingesessene ist stolz, dass er bei der nächsten Lästerrunde am Gartenzaun etwas Neues über die Neuen weiß.
Der Nachteil ist, dass auf dem Land jeder alles weiß und in Erfahrung bringt und man nichts vor seinem Nachbarn verheimlichen kann. Das stimmt auch, aber wer findet es nicht interessant, was seine Nachbarn so treiben?! Das erzieht die Zugezogenen schon zur Sittsamkeit und verhindert Skandale und Ähnliches. Wer im Dorf wohnt, lernt Frieden in der Familie zu wahren. Und noch einen Vorteil hat die Tatsache, dass jeder jeden kennt: Man kann bei jedem klingeln, wenn man zum Plätzchenbacken eine Tasse Mehl braucht.
Noch einen Vorteil für die Kinder gibt es, auch wenn in dieser Hinsicht die Meinungen sichtlich auseinandergehen: Es schneit schon im September, mit Sicherheit aber im Oktober. Sie haben also viel mehr Zeit, Schneeburgen zu bauen und ihre Eltern mit Schneekugeln abzuwerfen. Man muss auch bedenken, dass bei Schnee die Schulbusse viel später oder manchmal auch gar nicht kommen. Folglich noch mehr Zeit zum im Schnee-Spielen, weil man weniger Schule hat, was natürlich zutiefst traurige Kinder nach sich zieht.
»Was - Sie wohnen noch nicht in Hengen? Dann aber schnell, wir sind bereit, die Bagger laufen schon warm«Auch für die Männer gibt es noch einen Grund, für den sich das Wohnen in Hengen lohnt: Wenn man von seiner Frau rausgeschmissen wird, braucht man keine Angst vor dem Hungertod haben - wir haben zwei hervorragende Gasthäuser, da kann man sich verpflegen lassen.
Was - Sie wohnen noch nicht in Hengen? Dann aber schnell, wir sind bereit, die Bagger des örtlichen Maurerbetriebs laufen schon warm, die Zimmerer hauen schon ihre krummen Nägel gerade, die Schreiner lassen ihre Kreissägen laufen, die Elektriker bestellen mehr Kabel und die Ehefrauen der Handwerker machen schnell noch Platz auf dem Konto. Wir sind bereit!
Doch auch die Hengener müssen etwas für ihr Dorf tun. Sie sollten die ortsansässigen Betriebe unterstützen, nicht ihr Haus vom Maurerbetrieb aus anderen Dörfern bauen lassen. Da muss man eben streng sein. Es ist nun mal Tatsache, dass viele Dörfer und Gemeinden, trotz der oben genannten Gründe, am Aussterben sind. Da muss sich der Hengener wehren, ohne Rücksicht auf eventuelle Verluste in Nachbardörfern. Die Hengener sollten auch den örtlichen Tante-Emma-Laden unterstützen. Man kann schon etwas tiefer in die Tasche greifen für eine (echte) Tafel Schokolade. Man muss nicht immer zu Aldi, Lidl, Netto oder Penny.
»Da muss sich der Hengener wehren, ohne Rücksicht auf eventuelle Verluste in Nachbardörfern«Denken Sie auch an die Senioren im Ort! Denken Sie auch an Ihre Zukunft. Wenn Sie einmal in den Frühherbst Ihres Lebens gekommen sind, sind Sie sehr dankbar, nicht immer ins Auto steigen zu müssen, nur um eine Butter zu kaufen. Wenn man jetzt den örtlichen Laden schon nicht mehr unterstützt, gibt es bis in zwei Jahren gar keinen mehr.
Oder auch die Kirche. Wir sind schon eine Doppelgemeinde, zusammen mit Wittlingen. Der Gottesdienst findet jeden Sonntag im Wechsel statt, um 9 Uhr in Hengen und 10.15 Uhr in Wittlingen und umgekehrt. Das wäre ja auch zu verkraften, aber wenn die Hengener Kirche nur noch von Rentnern und pflichtbewussten Konfirmanden besucht wird, wird in absehbarer Zeit der Gottesdienst nur noch im Wechsel stattfinden, jetzt im Wechsel der Ortschaften und nicht in der Zeit.
»Die Kirche muss genutzt werden, sonst wird sie noch zur Bar beim Dorfhock umgebaut, und das will doch keiner«Irgendwann wird aus der jetzigen Doppelgemeinde eine Dreifachgemeinde werden - Seeburg, wir kommen. Natürlich muss auch der Klerus etwas für den besseren Kirchenbesuch tun, aber damit muss sich auch die Amanduskirche rumschlagen. Wir Hengener müssen aber unseren Pfarrer Sauter in dieser Hinsicht loben. Doch die Kirche muss genutzt werden, sonst wird sie noch zur Bar beim Dorfhock umgebaut, und das will doch keiner.
Eine Folge des wenig besuchten Gottesdienstes ist auch weniger Opfergeld, das man für die Renovierung des Kirchturmes gut gebrauchen könnte. Auch in den Vereinen sollten die Landbewohner entgegen dem Trend mehr tätig werden. Nun werden wieder alle ehemaligen Stadtbewohner sagen, sie hätten keine Zeit zum Fußballspielen, Schießen, Musizieren oder Feuerlöschen. Doch wenn man will, kann man sich Zeit nehmen. Es ist für jeden etwas da: In Hengen gibt es einen Gesangverein, einen Posaunenchor, den Akkordeonclub, die Modellflieger, den Schützenverein, die Feuerwehr und natürlich einen Sportverein für die Hyperaktiven unter uns.
»Ich weiß gar nicht, warum die Hengener überhaupt noch ihr Ortsschild hinter sich lassen«Der große Vorteil für Zugezogene ist auch, dass man so viel schneller eingegliedert und im Dorf aufgenommen wird. Wenn man Glück hat, darf man dann auch Bier ausschenken beim Hock, andere dürfen Laugenwecken salzen. Man muss natürlich nicht erwähnen, dass die Hengener auch einen Arzt haben, den sie zwar mit vielen anderen Gemeinden teilen, aber trotzdem. Wenn jedoch die mobilen Eltern mit ihren Kindern zum Arzt nach Urach fahren, wird es bald keinen Landarzt mehr geben. Man denke nur daran, wenn Herr Dr. Gussmann in Rente geht, was kommt dann?
Ich weiß gar nicht, warum die Hengener überhaupt noch ihr Ortsschild hinter sich lassen. Vielleicht sollte man eine Zollstelle beim Ortsausgang einrichten, die für jedes Gut und jede Dienstleistung, die man außerhalb des Dorfes entgegengenommen hat, Zoll verlangt. Vielleicht muss man die Leute zu ihrem Glück zwingen!
Doch auch die Ureinwohner sollten sich bemühen, den jungen Zugezogenen nicht im Weg zu stehen und ihnen keine Steine in diesen zu werfen. Hengen existiert in zehn Jahren nicht mehr ohne neue Einwohner. Ich glaube, jeder hat im Biologieunterricht so weit aufgepasst, dass er weiß, dass jedes Lebewesen einmal aufhört, eines zu sein und zu Humus wird. Sterben nennt man dann diesen Prozess. Hengen kann doch nicht nur aus dem Friedhof bestehen. Beide Parteien - die waschechten Hengener und die, die mal zu waschechten werden wollen - müssen aufeinander zugehen. Wenn man jedoch als echter Hengener einem Neuen begegnet und dieser dann, wie in einer rüpelhaften Stadt üblich, an einem vorbei läuft und nichts sagt, kein Wort des Grußes, nichts, ist es schon um den Integrationswillen geschehen.
»Das Wichtigste, liebe Neu-Hengener, ist es, jeden, den man sieht, zu grüßen«Das Wichtigste, liebe Neu-Hengener, ist es, jeden, den man sieht, zu grüßen. Dann wird man umso schneller aufgenommen. So ein freundliches »Hallo« kostet doch nicht so viel Mühe. Die »Alten« werden sicher nicht den ersten Schritt tun und sofort ein Gespräch beginnen.
Wenn man in Hengen oder in sonst einem ländlichen Dorf wohnt, muss man mit den Leuten reden. Wir sind keine Schläferstadt, in die man nur zum Schlafen geht, und die man dann morgens wieder verlässt. Nein: Wer in Hengen wohnt, lebt auch in Hengen, sonst kann er gleich draußen bleiben. Man kann also folgenden Kompromiss schließen: Die Hengener bemühen sich um neue Mitbürger und darum, diese auch zu integrieren. Doch die Neuen sollen sich auch darum sorgen, sich den Bemühungen der Alten würdig zu erweisen. Wenn das so gemacht wird, muss man in ein paar Jahren das Ortsschild erneuern: »Hengen - Große Kreisstadt«. (ZmS)
Florian Slogsnat, Graf-Eberhard-Gymnasium Bad Urach
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