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Aktuell INTERVIEW

Autodetektive im Einsatz

REUTLINGEN. Wieder einmal ein Autounfall in den Nachrichten. Die Polizei war auch schon zur Stelle, aber wer untersucht den genauen Unfallhergang und welche Hinweise geben die beteiligten Fahrzeuge? Wäre der Unfall vermeidbar gewesen und was ist den Insassen passiert? Gibt es Unterschiede bei der Unfallschwere der beteiligten Fahrzeuge? Warum sehen manche Autos augenscheinlich schlimmer aus als andere? Diese Fragen stellte ich mir und wollte endlich herausfinden, wer und was dahinter steckt. Nach langer Recherche habe ich nun jemanden gefunden, der mir dazu Rede und Antwort stehen kann. Uwe Nagel von der Mercedes-Benz Unfallforschung in Sindelfingen hat sich bereit erklärt, meine Fragen zu beantworten.

ZmS: Seit wann besteht denn die Unfallforschung von Mercedes-Benz?

Uwe Nagel: Die Unfallforschung bei Mercedes-Benz besteht seit 1969, also schon über 40 Jahre.

»Ein Unfall ist wie ein Puzzle. Mehrere Faktoren spielen eine Rolle«
Gibt es nur bei Mercedes-Benz eine Unfallforschung?

Nagel: Nein, es gibt noch andere deutsche Automobilhersteller, wie zum Beispiel VW, Audi oder BMW, die eine eigene Unfallforschung haben.

Welche Aufgaben hat die Unfallforschung bei der Automobilindustrie?

Nagel: Die Unfallforschung soll helfen, die Autos zu verbessern und neue Entwicklungen aus den Unfalldaten abzuleiten. Außerdem fließen die Erkenntnisse in Anforderungen für neue Fahrzeuge - zum Beispiel für neue Crashtests oder Bauteileigenschaften - ein. Aus solchen Untersuchungsergebnissen entstand beispielsweise die Idee für den Airbag oder das Stabilitätsprogramm ESP.

Welchen Beruf muss man denn gelernt haben, um Unfallforscher zu werden?

Nagel: Die meisten Kollegen sind Diplom-Ingenieure, es gibt aber auch Mathematiker für Unfalldatenauswertungen und einen Mediziner, der die Verletzungen interpretiert.

Wie bekommen Sie die Unfälle gemeldet?

Nagel: Die Unfälle bekommen wir von der Polizei, von Abschleppfirmen oder von Mercedes-Benz-Autohäusern gemeldet. Die Legitimation dazu wurde durch einen Erlass des Innenministeriums Baden-Württemberg 1969 geschaffen.

Wie viele Unfälle bekommen Sie pro Jahr gemeldet? Wie viele Autos haben Sie schon untersucht?

Nagel: 150 bis 200 Unfälle werden so gemeldet. Etwa 80 davon sind für uns interessant. Insgesamt fanden so etwa 4 200 Unfälle ihren Weg in unsere Datenbank.

Haben die Kunden nichts dagegen, dass Sie ihre Fahrzeuge anschauen?

Nagel: Nach jeder Unfallmeldung werden die Fahrer beziehungsweise Halter nach ihrem Einverständnis gefragt. Dies geschieht meist durch die Polizei direkt am Unfallort. Wenn jemand dagegen ist, respektieren wir die Ablehnung. Das passiert allerdings nur selten, denn viele wollen uns unterstützen und halten unsere Arbeit für sehr sinnvoll.

Auf was legen Sie bei einer Untersuchung besonderen Wert und wie läuft das ab?

Nagel: Ein Unfall ist wie ein Puzzle. Es spielen mehrere Faktoren eine große Rolle: das Unfallfahrzeug selbst, das gegnerische Fahrzeug und die Unfallstelle. Dabei ist die Untersuchung des Unfallfahrzeugs am wichtigsten. Bei ihr werden rund 4 000 Einzelkriterien beziehungsweise Teile am Fahrzeug angeschaut. Dazu gehören beispielsweise Fahrwerks-teile, Innenraumbauteile und Airbags.

Wie lange brauchen Sie dazu?

Nagel: In der Regel einen ganzen Tag, wobei die Hälfte der Zeit auf die Untersuchung des verunfallten Autos fällt.

Schauen Sie alle Mercedes-Unfälle an?

Nagel: Nein, nur die Unfälle mit aktuellen Modellen, die momentan verkauft werden.

Warum nicht alle Modelle?

Nagel: Weil nur an den aktuellen Modellen etwas geändert werden kann. Denn diese befinden sich noch in der Produktion und können deshalb auch noch verbessert werden. Außerdem sind die neuen Assistenzsysteme dort bewertbar.

Was sind denn Assistenzsysteme?

Nagel: Das sind Systeme, die dem Fahrer helfen, Unfälle zu vermeiden. So warnt zum Beispiel der CPA, ein Kollisionswarner, in der neuen A-Klasse vor einem drohenden Aufprall und kann bei Bedarf den Fahrer beim Bremsen unterstützen.

Wie weit fahren Sie für einen Unfall?

Nagel: In der Regel untersuchen wir in Baden-Württemberg, bei interessanten Fällen fahren wir jedoch auch größere Strecken. Da es zum Glück immer weniger Unfälle mit Schwerverletzten und Getöteten gibt, müssen wir unseren Untersuchungsradius etwas vergrößern. Dies nehmen wir jedoch gerne in Kauf. Vielen Dank für das Interview! Mir ist jetzt klar geworden, dass die Industrie durch neuartige Systeme versucht, in Zukunft Unfälle zu vermeiden und wie wichtig die Rolle der Unfallforschung bei der Automobilindustrie ist. (ZmS)

Carina Bürkle, BZN-Gymnasium Reutlingen, Klasse 9b