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Aktuell Leserbrief

»Peinliche Armut«

Zum Artikel »Nachhaltigkeit statt Mülleimer« vom 14. August (per E-Mail)

Gleich zwei Mal lese ich auf einer GEA-Seite das Zitat von Nathalie Lüddecke von Food-Sharing Reutlingen: »Viele scheuen den Weg zur Tafel. Den Menschen ist es peinlich, dass sie nicht genügend Geld haben.« In der Tat gibt es bei den Tafeln Kunden, die das so erleben und auch so formulieren. Aber die Mehrheit ist das sicher nicht. Die meisten sind schlicht froh darüber, hier in einer freundlichen Atmosphäre sehr günstig einkaufen zu können, um noch etwas Geld für andere Dinge übrig zu haben.

Davon profitieren durch die Arbeit der vier Tafeln des Diakonieverbandes im Landkreis über 2 500 Menschen. Peinlich sollte es vielmehr uns – der Mehrheitsgesellschaft – sein, dass immer mehr Menschen in der Armutsfalle landen. Laut Friedrich-Ebert-Stiftung hat die Altersarmut im Landkreis Reutlingen von 2011 bis 2016 um 20 Prozent zugenommen. Durch den wachsenden Mangel an sozialem Wohnraum und ein sinkendes Rentenniveau verschlechtert sich die Situation weiter. Tafel und Vesperkirche sind deshalb Orte, an denen Armut sichtbar wird. An denen aber durch die Arbeit vieler ehrenamtlicher Menschen mit kleinem Geldbeutel erleben, dass Armut nicht peinlich sein muss. Einfach deshalb, weil sie hier willkommen sind und ihnen respektvoll und menschlich begegnet wird.

Dass wir in den Tafeln Kundenausweise ausstellen und nicht jeder dort einkaufen kann, hat vor allem äußere Gründe: Wer Mitglied im Tafelverband ist, verpflichtet sich dazu. Viele unserer Partner, von denen wir Lebensmittel erhalten, legen großen Wert darauf, dass vor allem Menschen mit wenig Geld davon profitieren. Nicht zuletzt müssten wir Umsatzsteuer erheben und auf die Preise aufschlagen, wenn das Angebot allen zugänglich wäre. Angesichts der großen Warenmenge – allein in Reutlingen sind es wöchentlich circa 900 Kisten – entstehen erhebliche Kosten für Transport und Kühlung, ebenso für Personal. Wir sind neben Spenden und kommunaler Unterstützung deshalb auf die Einnahmen aus dem Verkauf angewiesen.

Es ist toll, dass es die Foodsharer auch in Reutlingen und Umgebung gibt. Wir haben das gemeinsame Ziel, Lebensmittel zu retten und möglichst viele Menschen für das Thema zu sensibilisieren. Meine Hoffnung ist, dass dies auch für weniger Betuchte in unserer Gesellschaft ein Grund mehr wird, mit gutem Gefühl in der Tafel einzukaufen. Übrigens: Die Reutlinger Tafel feiert dieses Jahr am 23. November mit einem Tag der offenen Tür ihren 20. Geburtstag.

 

Dr. Joachim Rückle, Geschäftsführer des Diakonieverbands, Reutlingen