Sebastian Friedrich hat ziemlich unruhige Nächte hinter sich. Der Assistenzarzt der Uniklinik in Freiburg musste sich über Chats und Mails mit anderen Medizinern absprechen, um kranke Patienten aus der Kinderklinik behandeln zu lassen. »Wir haben nachts quer durch alle Kinderkliniken in Baden-Württemberg verzweifelte Telefonate geführt und versucht, auch noch das letzte mögliche Bett für eine krankes Kind aufzutreiben«, erinnert sich der 33-Jährige an die vergangenen Wochen. Unter anderem suchte er für ein neun Monate altes Kind mit RS-Viren und Grippe ein Bett, vier Stunden später konnte es von Freiburg nach Karlsruhe gebracht werden. »Aber wir haben gemerkt, dass diese Vernetzung nachts nicht reicht und wir politischen Druck machen müssen«, erzählt ein sichtlich frustrierter Mediziner. »Die Lage ist katastrophal überall.«
Angesichts von Überlastung und Personalnot richteten Friedrich und weitere Fachärzte aus fast zwei Dutzend Kinderkliniken im Land mit deutlichen Worten einen Hilfsappell an die Landesregierung. Das System werde seit Jahren kaputtgespart, dringende kinderchirurgische Eingriffe würden verschoben. Nicht zuletzt dieser politische Druck hat Vertreter der Krankenhäuser und Pflege, der Gewerkschaften und Berufsverbände sowie das Gesundheitsministerium am Donnerstag zusammengebracht. In der zweistündigen Videoschalte berieten sie über Mittel und Wege aus der Krise, sicherten sich einen gemeinsamen Kraftakt zu, diktierten dem Land eine lange To-Do-Liste und verabredeten erste, wenngleich kleine konkrete Schritte.
Denn die Zeit drängt: Die Lage in den baden-württembergischen Kinderkliniken ist seit Wochen angespannt, nicht zuletzt auch weil es immer mehr Atemwegserkrankungen durch sogenannte RS-Viren gibt. Diese sind besonders für Frühgeborene, Säuglinge und Kleinkinder gefährlich, sie können schwere Lungenentzündungen auslösen.
Mit dramatischen Schilderungen aus dem Klinikalltag beschrieben auch Friedrichs Kollegen aus anderen Kliniken beim Fachgipfel die Belastungen des Personals und der Patienten. Es gebe stundenlange Wartezeiten, Kinder müssten teils in Notaufnahmen übernachten, sagte Friedrich Reichert, Kinder-Intensivmediziner in der größten deutschen Kinderklinik, dem Klinikum Stuttgart-Olgahospital. »Betten sind vorhanden, aber die Pflegekräfte fehlen. Diesen Mangel gibt es seit Jahren«, kritisierte er. So habe es an 58 der vergangenen 60 Tage in seiner Notaufnahme jeweils zwölf Stunden lang mehr Patienten als Versorgungsplätze gegeben.
Apotheker warnten Gesundheitsminister Manne Lucha (Grüne) vor einer zunehmend intensiver werdenden Knappheit von Fiebersäften für Kinder, Ärzte bemängelten Frust in den Stationen und eine fehlende Attraktivität für den Beruf.
Der Grünen-Minister verteidigte aber bei aller Kritik auch die bisherigen Schritte des Landes, das von Januar an auch den Vorsitz der Gesundheitsministerkonferenz hat. Die Pflegepersonaluntergrenzen an den Kinderkliniken in Baden-Württemberg müssten auch weiterhin nicht eingehalten werden, bekräftigte er zudem. Auch werde man als Ergebnis des Gipfels konkrete Forderungen an den Bund formulieren. Schulen und Kitas würden zudem aufgefordert, nur in bestimmten Fällen ein ärztliches Attest zu verlangen. So könnten Kinderarztpraxen entlastet werden.
Der Verband leitender Kinder- und Jugendärzte Deutschlands warf der Regierung allerdings auch vor, nicht rechtzeitig reagiert zu haben. »Die Situation ist vorprogrammiert gewesen«, sagte sein Landesvorsitzender Christian von Schnakenburg bei der Videoschalte. Die Regierung sei bereits vor einem Jahr deutlich gewarnt worden. »Ein «Weiter so» geht nicht«, sagte Roland Fressle vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte in Baden-Württemberg. Er betonte, es habe eine Mangelversorgung in der kinderärztlichen Versorgung bereits vor der aktuellen Infektwelle gegeben. »Der Personalmangel zusammen mit der Infektwelle, dem Mangel an Antibiotika, Fiebersäften und auch Diagnostikkits bringt nun das Fass zum überlaufen«, sagte Fressle.
»Das ist eine Notlage«, warnte auch der Hauptgeschäftsführer der Baden-Württembergischen Krankenhausgesellschaft (BWKG), Matthias Einwag. »Das ist kein Dauerzustand.« Es müsse zunächst die Versorgung an den Weihnachtstagen und bis nach Neujahr sichergestellt werden. Danach müsse geklärt werden, wie die Lage der Kliniken und ihres Personals auf längere Sicht verbessert werden könne.
Was bleibt nach zwei Stunden Gipfeltreffen? Vor allem der Appell und ein prall gefülltes Hausaufgabenbuch für die Politik. Teilnehmer zeigten sich vorsichtig optimistisch. »Was jetzt zählt ist, dass Anregungen des Gipfels auch umgesetzt werden«, sagten Assistenzarzt Friedrich und seine Kollegin Florence Junghanns, die als Fachärztin an der Uniklinik Ulm arbeitet. Lucha habe ein Fachsymposium für den kommenden Sommer angekündigt. »Das Thema ist jetzt gesetzt, nun muss sich die Politik an ihren Taten messen lassen«, sagten die beiden Mediziner, die zu den Initiatoren des Hilfsappells der Ärzte gehören.
Ähnlich sieht es von Schnakenburg, der neben seiner Verbandsarbeit auch Kinder und Jugendarzt in Esslingen ist. »Man kann in zwei Stunden natürlich nicht die Probleme aus zehn Jahren lösen«, sagte er. Aber bis zum nächsten Gipfel müssen Veränderungen spürbar sein in allen Gewerken. »Dass die Hütte brennt, merkt jetzt jeder«, sagte der Mediziner. »Das Thema ist nun gesetzt und der Gipfel hat die Dringlichkeit noch einmal hervorgehoben.«
© dpa-infocom, dpa:221221-99-983801/9