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Sexuelle Belästigung in Behörden: Nur »Spitze des Eisbergs«?

Vorwürfe sexueller Belästigung gegen den Polizeiinspekteur schlagen derzeit höchste Wellen. Wie tief sitzt das Problem in den Landesbehörden? Experten warnen: Nur ein kleiner Teil der Taten gelangt ans Licht.

Heidi Deuschle (r-l), Erika Bock, und Nathalie Oberthür
Landesfrauenvertreterin Heidi Deuschle (r-l), Bezirksfrauenausschuss-Vorsitzende Erika Bock und Anwältin Nathalie Oberthür. Foto: Marijan Murat
Landesfrauenvertreterin Heidi Deuschle (r-l), Bezirksfrauenausschuss-Vorsitzende Erika Bock und Anwältin Nathalie Oberthür.
Foto: Marijan Murat

Eine schmutzige Anspielung, eine unsittliche Berührung, ein sexueller Übergriff - Experten und Expertinnen gehen von einer hohen Dunkelziffer von Fällen sexueller Belästigung in Landesbehörden aus. Nach Angaben des Innenministeriums gab es in den vergangenen drei Jahren 230 Eingaben in der Landesverwaltung im Zusammenhang mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz. »Das zeigt nur die Spitze des Eisbergs«, sagte die Vorsitzende des Bezirksfrauenrats des Deutschen Gewerkschaftsbunds, Erika Bock, am Mittwoch in einer Anhörung im Innenausschuss des Landtags zum Thema. Da müsse noch mehr drunter liegen, was nicht aktenkundig werde, wo Betroffene nicht drüber sprächen. Das Thema müsse endlich enttabuisiert werden.

Es gebe einen guten Rechtsrahmen, der werde aber in der Realität selten angewendet, weil Belästigung schwer nachweisbar sei, sagte auch die Kölner Arbeitsrechtsanwältin Nathalie Oberthür bei der Anhörung.

Die Leiterin des Forschungsbereichs »Gender, Gewalt und Menschenrechte« an der Universität Erlangen-Nürnberg, Monika Schröttle, berichtete von einer bundesweiten Studie, wonach neun Prozent der Erwerbstätigen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erfahren hätten, unter Frauen gar 13 Prozent. Sexuelle Belästigung betreffe auch den öffentlichen Dienst, sagte Schröttle. Über 80 Prozent der Täter seien Männer - Vorgesetzte, Kollegen, Kunden oder Patienten. »Viele Betroffene wissen nicht, an wen sie sich wenden können«, kritisierte Schröttle. Der Rechtsweg werde so gut wie nie beschritten. Führungskräfte hätten die zentrale Rolle, sie müssten eine klare Haltung signalisieren, dass das nicht geduldet werde.

In 76 der 230 Fälle der Landesverwaltung ging es um Vorgesetzte, heißt es in der Antwort des Innenministeriums auf eine Anfrage der SPD-Fraktion. In 58 Fällen wurden Strafverfahren eingeleitet, von diesen aber 23 eingestellt. Eines wurde mit einer Verurteilung beendet. Die restlichen Verfahren seien noch nicht abgeschlossen. Darüber hinaus wurde in 55 Fällen ein Disziplinarverfahren eingeleitet - es folgten unter anderem zwei Verweise, sechs Geldbußen und eine Entfernung aus dem Beamtenverhältnis.

Er rede nicht von Einzelfällen, jeder Fall sei einer zu viel, sagte Innenminister Thomas Strobl (CDU) am Mittwoch. Er berichtete von 11 Verdachtsfällen der sexuellen Belästigung im ersten Quartal 2022 bei der Polizei. Strobl verwies an eine Vielzahl von Meldestellen. Die Polizei wolle eine Führungskultur erzeugen, die verhindere, dass weggeschaut und weggehört werde.

Viele Dinge würden nicht aktenkundig, kritisierte SPD-Innenpolitiker Sascha Binder. Meist wechsle das Opfer den Arbeitsplatz und der Täter behalte dann seine berufliche Position. Das Problem werde so auf kleinem Dienstweg geregelt zulasten des Opfers. Die SPD fordert mehr externe Beratungsstellen, klar kommunizierte Meldewege und mehr Dienstvereinbarungen. »Es ist bestürzend, dass das Innenministerium bis zum heutigen Tage selbst keine Dienstvereinbarung zur sexuellen Belästigung geschlossen hat«, sagte SPD-Innenpolitiker Sascha Binder. »Auch die Vorwürfe gegenüber dem Inspekteur der Polizei hat das Ministerium nicht zum Anlass genommen, jetzt eine Dienstvereinbarung zu schließen.« In einer Dienstvereinbarung regeln Arbeitgeber und Personalrat Rechte und Pflichten von Arbeitgeber und Beschäftigten.

Hintergrund sind Ermittlungen gegen den höchstrangigen Polizisten im Land, den Inspekteur der Polizei, wegen sexueller Belästigung. Er ist vom Dienst suspendiert. Der Mann soll eine Kollegin sexuell bedrängt haben. Auch Strobl steht indirekt wegen der Sache unter Druck - er gab ein Schreiben des Anwalts des Inspekteurs an einen Journalisten weiter. Die Staatsanwaltschaft ermittelt deshalb auch gegen ihn. Die Opposition fordert Strobls Rücktritt und will ihn in einem Untersuchungsausschuss unter Druck setzen.

© dpa-infocom, dpa:220629-99-848830/3