REUTLINGEN. FDP-Spitzenkandidat Hans-Ulrich Rülke fordert im Wahlprogramm eine radikale Verwaltungsreform. Dazu gehört laut Rülke eine Abschaffung der Regionalverbände bis 2031 und der Regierungspräsidien bis 2036. Außerdem soll es Anreize geben, dass Gemeinden unter 5.000 Einwohnern und Landkreise unter 150.000 Einwohnern fusionieren. Auch CDU-Spitzenkandidat Manuel Hagel forderte kürzlich die Abschaffung von »mindestens zwei Verwaltungsebenen«.
Reinhold Gall, SPD-Innenminister von 2011 bis 2016 und heute noch Kreisrat in Heilbronn ist aufgeschlossen dafür, über eine Verwaltungsreform zu reden. Die Verwaltungsreform der 1970er Jahre habe zwar die SPD die Regierungsbeteiligung gekostet, sei aber auch ein großer Wurf gewesen, den heute kaum noch jemand in Frage stelle. Ähnlich sei es auch mit der Polizeireform, die er als Innenminister umgesetzt habe. Heute müsse man vor allem auf kommunaler Ebene anfangen, die Gemeinden zu entlasten. »Ich kann Ihnen aus Anhieb zwei oder drei Gemeinden im Landkreis Heilbronn nennen, die nicht mehr in der Lage sind, ihren Aufgaben nachzukommen. Die haben im Oktober noch keinen Haushalt verabschiedet.«, sagt Gall. Vieles an den traditionellen Kommunalstrukturen sei überholt.
»Ich war 22 Jahre lang Ortsvorsteher. Aber heute sind die Ortschaftsräte für viele im Rathaus nur noch lästig.« Früher seien im Ortschaftsrat noch einige Dinge entschieden worden, heute sei das meiste nur noch Kenntnisgabeverfahren, sagt Gall, dessen Frau im Ortschaftsrat sitzt. Es falle immer schwerer, überhaupt noch Leute zu finden, die bereit seien zu kandidieren. »Wegen mir könnten wir die Ortschaftsräte sofort auflösen, weil sie ohnehin nicht mehr viel zu entscheiden haben«, sagt Gall. An ihrer Stelle könnten Ortsombudsleute treten, die im Gemeinderat Rederecht haben müssten, um ihren Teilorten Gehör zu verschaffen. Eine Verwaltungsreform müsse nicht unbedingt eine Gebietsreform sein, stellt Gall klar. Jede Gemeinde könnte ihren Bürgermeister behalten, aber es sollten Anreize geschaffen werden, um bestimmte Aufgaben an Verwaltungsgemeinschaften zu übertragen, so Gall. Auch würden die Kreistage derzeit zu 80 Prozent über staatliche Aufgaben und nur zu 20 Prozent über kommunale Aufgaben reden. Oft würde eine einzelne Person Genehmigungsverfahren über Jahre aufhalten, so der Ex-Minister. Über ein Auflösung von Regionalverbänden und Regierungspräsidien könne man reden. Dann aber müssten deren Aufgaben eher nach oben als nach unten verlagert werden um die Landratsämter nicht zusätzlich aufzublähen. Änderungsbedarf beste, denn »die Politikverdrossenheit wegen der viele zur AfD rennen, die hat auch damit zu tun, dass auf der unteren Ebene viele Dinge nicht funktionieren«, so der Ex- Innenminister.
Professor Pautsch spricht von Wahlkampfrhetorik
Als überwiegend populistische Wahlkampfrhetorik beurteilt Arne Pautsch, Professor für Öffentliches Recht und Kommunalwissenschaften an der Hochschule Ludwigsburg, diese Forderungen. Denn schließlich blieben die staatlichen Aufgaben erhalten, auch dann, wenn man die Regierungspräsidien als mittleren Verwaltungsbehörden auflöse. Am Beispiel Niedersachsens erklärt Pautsch, was passiere, wenn man die Mittelbehörden auflöst: »Diese Verwaltungsstrukturreform der CDU-/FDP-Regierung ab 2003 gilt unter Verwaltungswissenschaftlern bis heute eher als Negativbeispiel, denn es wurden Sonderbehörden und Sonderreferate in den Ministerien geschaffen, um die unverändert bestehenden staatlichen Aufgaben zu erledigen.«. Natürlich könne man bisherige Aufgaben der Mittelebene nach unten an die Landratsämter verlagern, aber dann müsse man diese aufblähen, sagt Pautsch. Die Auflösung der Regierungspräsidien würde auch eine klare Abkehr von der in Baden-Württemberg Anfang der 2000er Jahre als Gegenmodell zu Niedersachsen verfolgten bewussten Stärkung der Regierungspräsidien als Mittelinstanz bedeuten. Dass dieses Modell derzeit nicht funktioniere, sei überhaupt nicht erkennbar, so Pautsch.
Auch von Fusionen von Landkreisen und Gemeinden hält Pautsch nicht viel. Diese Forderung komme immer dann auf, wenn Kommunen und Landkreise verschuldet seien. »Aber wenn man zwei Kranke zusammen in ein Bett legt, kommt nicht unbedingt ein Geheilter dabei heraus«, sagt Pautsch. Baden-Württemberg habe im Bundesvergleich zwar viele kleine Gemeinden, aber auch relativ große Landkreise. In Mecklenburg-Vorpommern sei versucht worden, Groß-Landkreise zu schaffen, doch das Landesverfassungsgericht habe dieses Vorhaben für verfassungswidrig erklärt, weil es unter anderem die demokratischen demokratisch geprägte Selbstverwaltung durch gewählte ehrenamtliche Kreisräte erschwere. »Wenn ein Kreisrat einen halben Tag unterwegs ist, um zu einer Sitzung zu gelangen, dann ist das nicht unbedingt demokratiefördernd«, gibt Pautsch zu bedenken. Sein Urteil: »Was Rülke und Hagel da in den Raum gestellt haben, differenziert auch nicht zwischen kommunalen und staatlichen Aufgaben und ist daher überhaupt nicht zu Ende gedacht. Eine Verwaltungsstrukturreform geht nur mit einer Ausdifferenzierung der Aufgaben, muss also mit einer Aufgabenkritik verbunden sein und mit dieser beginnen. Erst dann kommt die Frage, welche Verwaltungsebenen dafür nötig sind – und nicht umgekehrt.«
Beck hofft auf Digitalisierung
Auch Joachim Beck, Rektor der Verwaltungshochschule in Kehl hält wenig davon Verwaltungsebenen abzuschaffen oder Gemeinden und Landkreise zu fusionieren. »Die vier Regierungsbezirke unterscheiden sich, Ich plädiere dazu die Regierungspräsidien zu erhalten«, sagt er dem GEA. Statt dessen schlägt Beck vor, staatliche Aufgaben von kommunalen Aufgaben zu trennen. Staatliche Aufgaben wie das Beantragen von Personalausweisen und Kfz-Zulassungen könne man digitalisieren und zentralisieren. Kommunale Aufgaben müssten dagegen bei den Gemeinden verbleiben. Beck geht von einer möglichen Effizienzsteigerung von 25 bis 30 Prozent durch Digitalisierung aus und erzählt von einer Gemeinde, die ihren Jahresabschluss mit Künstlicher Intelligenz macht. Auch begleite seine Hochschule ein Modellprojekt im Kinzigtal, bei dem Aufgaben gebündelt werden. Dabei gebe es drei Möglichkeiten. Entweder die größte Gemeinde übernehme aufgaben für kleinere Gemeinden im Umland, oder man verteile Spezialisierungen unter den beteiligten Gemeinden oder man delegiere bestimmte Aufgaben an eine gemeinsame Verwaltungsgemeinschaft. Von einer Abschaffung von Ortschaftsräten hält Beck nichts. »Die Kommunale Selbstverwaltung ist die Wiege der Demokratie«, sagt er Herangehen will Beck statt dessen an die »viel zu komplexen« Regulierungen: »Wir haben eine Verwaltungskultur, die alles gerichtsfest machen will.« Weil jeder Bürger mit einer Rechtsschutzversicherung im Einzelfall dagegen klage. Daran müsse man etwas ändern.
Achim Brötel, Landrat des Neckar-Odenwald-Kreises und Präsident des Landkreistages Baden-Württemberg findet, dass angesichts leerer öffentlicher Kassen und eines sich verschärfenden Fachkräftemangels in der Verwaltung über eine Verschlankung der Behörden nachgedacht werden müsse. Allerdings dürfe das »Pferd nicht von hinten aufgezäumt werden«, so Brötel. »Denn eine Verwaltungsreform allein wird nicht die erwünschten Erfolge bringen, solange die öffentliche Hand die schiere Fülle an staatlichen Aufgaben nicht mehr bewältigt bekommt und in einem Normendickicht feststeckt«, benennt Brötel die Probleme. Er fordert: »Es bedarf daher vordringlich einer konsequenten Deregulierung«. Als Beispiele nennt der Landrat den »überbürokratisierten Sozialbereich, etwa in der Eingliederungshilfe und in der Pflege«. Brötel appelliert an die Landesregierung bei diesen Themen »am Ball zu bleiben.« (GEA)



