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Puzzleteile einer Kneipennacht: Details im Polizei-Prozess

Wie nah darf ein Vorgesetzter einer Untergebenen kommen? Warum vernichten sowohl der vermeintliche Täter als auch sein mutmaßliches Opfer Handy-Daten? Der Polizei-Prozess geht ins Detail.

Gerichtsmikrofon
Ein Mikrofon steht in einem Saal eines Gerichts. Foto: Friso Gentsch
Ein Mikrofon steht in einem Saal eines Gerichts.
Foto: Friso Gentsch

Anzügliche Bemerkungen, Zärtlichkeiten zwischen Kollegen: Der Prozess gegen den höchstrangigen Polizisten des Landes offenbart, dass der angeklagte Inspekteur nicht nur mit seinem mutmaßlichen Opfer eher weniger dienstliche Kontakte pflegte. Die Zeugenbefragung am Dienstag brachte brisante Details ans Licht. Demnach bandelte der Inspekteur immer wieder mit Kolleginnen an, unter anderem mit einer Polizistin auf den Weg in den höheren Dienst, die bis zu ihrer Verlobung mit ihm Zärtlichkeiten austauschte, von »magischen Momenten« sprach. Eine Verwaltungsbeamtin des Innenministeriums berichtete laut Zeugen von sexuell unangemessenen Bemerkungen. Der Inspekteur habe ihr deutlich gemacht, dass er mit ihr Sex haben wolle - und seine Ehe dem nicht entgegenstehe.

Der ranghöchste Polizist des Landes steht vor Gericht, weil er im November 2021 eine damals 32 Jahre alte Polizistin vor einer Kneipe sexuell genötigt haben soll. Davor trafen sich die beiden in seinem Dienstzimmer, sprachen über ihre Karriere, tranken Sekt. Im Polizei-Prozess zeichnen Zeugen am Dienstag den Ablauf des Abends nach. Es sind Puzzleteile einer verhängnisvollen Kneipennacht.

Die Polizeidirektorin - Sie, 45, kurz vor der Beförderung zur Leiterin der Kripo Böblingen, wird an besagtem Tag von der Kommissarin ins Dienstzimmer des Inspekteurs geholt, trinkt mit den beiden Sekt. Sie erzählt, wie die Polizistin den Inspekteur zu einem Selfie vor der Schrankwand im Dienstzimmer überredet - ausgerechnet vor Plakaten der Wertekampagne, die der Inspekteur damals verantwortet. Slogan: »Diskriminierung? Nicht bei uns«. Die beiden wirken fröhlich auf dem Foto. »Mich hat das verwundert«, kommentierte die Zeugin die Aktion. Die Polizeidirektorin nimmt weder »alkoholbedingte Ausfallerscheinungen« wahr noch anzügliche Sprüche - geht aber auch früher nach Hause als die anderen.

Der Kollege - Der Polizeibeamte aus Laichingen trinkt noch weiter mit dem Inspekteur und der jungen Polizistin. Um 22.00 Uhr kommt die Idee auf, noch einen Absacker zu trinken. In der Bar erzählt sie ihm von ihren misslungenen Beziehungen, dass sie immer an falsche Männer gerate. Er sagt, er könne sich das gar nicht vorstellen, sie sei doch attraktiv. »Sie saßen recht nah beieinander, ich habe das als irritierend empfunden«, sagt der Zeuge. Als er nach Hause geht, ziehen Inspekteur und Kommissarin zu zweit weiter nach Bad Cannstatt.

Die Bedienung - Die 43-Jährige kennt den Inspekteur, er ist Stammgast in der Eckkneipe. Sie bedient ihn regelmäßig, duzt ihn. Meist habe er dort sonntags Fußball geschaut und Zeitung gelesen. In besagter Nacht bringt sie der Polizistin Rum-Cola und ihm ein Weizen – »wie immer«, erzählt sie. Die beiden hätten sich unterhalten, umarmt, geküsst, so die Bedienung. »Ich hatte zu keiner Zeit den Eindruck, dass das nicht freiwillig ist.« Interessant: Die Bedienung berichtet von drei weiteren Damen, die den Inspekteur in die Kneipe begleitet hätten. Auch mit ihnen habe er Zärtlichkeiten ausgetauscht.

Schließlich gehen die Polizistin und der Angeklagte für knapp fünf Minuten vor die Tür - und hier soll die sexuelle Nötigung geschehen sein, die allerdings keine Kamera aufzeichnet. Die Polizistin hat das Glied des Inspekteurs in der Hand, während er uriniert. Das räumen beide ein. Ob das aber von ihr ausging oder er sie dazu gedrängt hat, darüber muss das Gericht entscheiden. Aussage steht gegen Aussage.

Der Taxifahrer - Die beiden gehen wieder in die Kneipe, trinken und knutschen weiter. Die Bedienung ruft ihnen schließlich ein Taxi. Der 68-jährige Fahrer berichtet, die Polizistin habe sich nach einer Sitzheizung erkundigt und vorne Platz genommen. Der Inspekteur sitzt hinten im Fahrzeug. Nach kurzer Fahrt sind sie bei ihm, steigen beide aus, verabschieden sich. Wie lange das dauert, kann der Taxifahrer nicht mehr sagen. »Ich belausche nicht die Gespräche meiner Fahrgäste.« Er fährt sie nach Hause. Die letzten paar Hundert Meter will sie seinen Angaben zufolge zu Fuß laufen, um eine Zigarette zu rauchen - obwohl er sie zur Haustür bringen will. Aber sie habe ihm gesagt, sie sei eine starke Frau. Sie habe weder schlecht gelaunt gewirkt noch sehr betrunken, so der Taxifahrer.

Der Ermittler - Er vernimmt die Polizistin zweieinhalb Wochen nach der Kneipennacht. »Sie hat sehr viel geweint«, erzählt der Sachbearbeiter. »Es war ihr anzumerken, dass sie das sehr mitnimmt.« Es sei ihr sogar schwer gefallen, bei der Vernehmung den Namen des Inspekteurs zu nennen, sie habe immer nur »er« gesagt. In der Kneipe habe er plötzlich von seinen sexuellen Vorlieben gesprochen, habe ihr geschildert, dass er auf pinkelnde Frauen stehe. In dem Moment sei ihr bewusst geworden, dass das Gespräch aus dem Ruder laufe, sagt sie aus. Sie sei geschockt und angeekelt gewesen, habe sich ausgenutzt gefühlt. Sie habe nachgeschoben, dass sie betrunken sei, um der Situation zu entkommen. Als die Ermittler später ihr Handy konfiszieren wollen, rennt sie den Aussagen zufolge noch auf Toilette und löscht den Chatverlauf mit ihrem Liebhaber. Er zerstört sein komplettes Handy vor der Durchsuchung.

Die Polizeipräsidentin - Sie ist auch bei der Sektrunde dabei, ermutigt die Kommissarin für die Bewerbung für den höheren Dienst. Als sie ihn mit den Vorwürfen konfrontiert, reagiert er fassungslos und schockiert, berichtet sie am Dienstag. Das könne sie doch nicht machen, soll er gesagt haben. Er habe aber auch gegenüber der Polizeipräsidentin durchblicken lassen, dass der Kneipenabend mit der Polizistin »zu wild, zu nah« gewesen sei. Der Inspekteur habe sie gebeten, von einem Verbot der Dienstgeschäfte abzusehen, weil dann seine Karriere beendet sei. Er habe darauf gedrängt, stattdessen zunächst Urlaubstage und Überstunden nehmen zu dürfen - ohne Erfolg. Man habe ihm seine Dienstwaffe abgenommen, auch um zu verhindern, dass er sich in einer Kurzschlusshandlung etwas antue.

Welche Version der Wahrheit entspricht, muss das Gericht entscheiden. Am Freitag sollen weitere Zeugen vernommen werden - und erneut die Anzeigenerstatterin, aber unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Es geht auch um ein von ihr heimlich aufgezeichnetes Telefonat mit dem Inspekteur und die Frage, ob es als Beweismittel im Verfahren abgespielt werden darf. Die Verteidigerin des Inspekteurs pochte hingegen auf ein sogenanntes Beweiserhebungs- und -verwertungsverbot. Die Polizistin habe sich mit dem Mitschnitt strafbar gemacht.

Landgericht Stuttgart

© dpa-infocom, dpa:230502-99-528432/4