Um die Abhängigkeit von russischem Gas nicht noch weiter zu erhöhen, fordert Ex-EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU) den Ausstieg aus der Atomindustrie in Deutschland hinauszuzögern. »Wenn man die Abhängigkeit von russischen Gasimporten nicht noch weiter erhöhen will, wäre es sinnvoll, die letzten drei noch am Netz befindlichen Atomkraftwerke in Deutschland Ende des Jahres nicht abzuschalten«, sagte er den »Stuttgarter Nachrichten« und der »Stuttgarter Zeitung« (Freitag).
Der Deutschen Presse-Agentur sagte der frühere baden-württembergische Ministerpräsident, es sei ein Gebot der Klugheit, die Stilllegungen zurückzustellen. Oettinger, der auch EU-Energiekommissar war, erklärte den Blättern zufolge weiter: »Die Kraftwerke verfügen über einen hohen Sicherheitsstandard und unterliegen ständigen Sicherheitskontrollen. Ich halte es für vertretbar, sie noch für eine gewisse Zeit am Netz zu lassen.« Er wolle aber die grundsätzliche Entscheidung nicht in Frage stellen, aus der Atomkraft auszusteigen.
Umweltministerin Thekla Walker (Grüne) sieht die Aussagen Oettingers sehr skeptisch. »Wir sind uns einig, dass wir die Abhängigkeit von Gas und Kohle aus Russland beenden müssen. Der richtige Weg dafür ist jedoch der massive und schnelle Ausbau der Erneuerbaren Energien sowie deren technologische Weiterentwicklung.« Sämtliche Anstrengungen und Investitionen für die Energieversorgung der Zukunft müsse man daraufhin ausrichten. »Erneuerbare Energien sind sicher, umweltverträglich und generationengerecht.« Kernkraft hingegen sei und bleibe gefährlich. »Fukushima zeigt uns bis heute eindrücklich, wie tödlich und zerstörerisch Kernenergie ist. Die Garantie - «absolut sicher» - kann und wird uns keiner geben.«
Nach bisheriger Gesetzeslage sollen spätestens Ende des Jahres die drei letzten deutschen Atomkraftwerke Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2 abgeschaltet werden. Zudem sind neue Gaskraftwerke geplant.
Die Landeschefin des Umweltverbandes BUND, Sylvia Pilarsky-Grosch, sagte, mit solchen unqualifizierten Zwischenrufen sei niemandem geholfen. Und der umweltpolitische der Grünen-Fraktion, Niklas Nüssle, nannte Oettingers Vorschlag eine »Nebelkerze«. Ein Atomkraftwerk über die geplante Laufzeit hinaus zu betreiben sei kompliziert und erfordere zusätzliche Schritte. So müssten neue und passgenau konfigurierte Brennstäbe hergestellt und eingebaut werden. »Das dauert mindestens ein Jahr. Zudem stellt sich die Frage: Wo kommen die Brennstäbe her?«. Er erinnerte daran, dass der Hauptlieferant von Brennstäben Russland sei.
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