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Nach Kritik kündigt Kretschmann Flüchtlingsgipfel an

Es ist ein Weckruf der Kommunen: Es drohe eine »Überforderungsfalle«, warnt der Chef des Landkreistags. Nicht nur bei der Aufnahme von Geflüchteten gehe bald nichts mehr. Das Land müsse gegensteuern.

Winfried Kretschmann
Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen), Ministerpräsident von Baden-Württemberg, am Sprechpult. Foto: Christian Johner
Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen), Ministerpräsident von Baden-Württemberg, am Sprechpult.
Foto: Christian Johner

Nach massivem Druck der Kommunen hat Ministerpräsident Winfried Kretschmann einen Flüchtlingsgipfel in Baden-Württemberg angekündigt. Er wolle noch das Bund-Länder-Treffen am 2. November abwarten, bei dem auch über die Aufteilung der Kosten für die Aufnahme von ukrainischen Geflüchteten verhandelt werde, sagte der Grünen-Politiker am Montag bei der Landkreisversammlung in Fellbach (Rems-Murr-Kreis) an. Danach werde er zu einem »Gipfel« mit den Kommunen einladen. Zuvor hatte der Präsident des Landkreistags, Joachim Walter, gemahnt, der Zuzug von Geflüchteten müsse gebremst werden. Denn die Aufnahmekapazitäten seien fast erschöpft und die Akzeptanz in der Bevölkerung lasse merklich nach.

Walter sieht falsche soziale Anreize für Ukrainer, die schon sichere Unterkünfte in anderen EU-Ländern wie Polen oder Spanien gefunden haben. »Diese ungesteuerte sekundäre Migration muss in der Tat unterbunden werden«, sagte der Tübinger Landrat vor etwa 300 Zuhörern in Fellbach. Der Bund müsse den sogenannten Rechtskreiswechsel für ukrainische Flüchtlinge rückgängig machen. Walter forderte das Land auf, eine entsprechende Bundesratsinitiative zu ergreifen.

Die Ukrainerinnen und Ukrainer erhalten seit dem 1. Juni Hartz IV und können dank des Rechtskreiswechsels auch eine eigene Wohnung mieten und eine Arbeit aufnehmen. Das habe eine starke Anziehungskraft, erklärte der Verbandspräsident. Der CDU-Politiker mahnte, es müsse verhindert werden, dass auch andere Asylbewerber von diesen sozialen Leistungen profitierten. Walter forderte das Land zudem auf, alle Kosten der Kommunen für Aufnahme und Versorgung der Geflüchteten zu übernehmen.

Kretschmann sagte, Baden-Württemberg habe sich nicht für den Rechtskreiswechsel eingesetzt. Doch sei es aussichtslos, im Bundesrat zu fordern, das wieder rückgängig zu machen. »Das muss man so akzeptieren.« Der Regierungschef beklagte, dass der Bund bisher seiner Zusage aus dem März nicht nachkomme, sich an den Kosten für die Aufnahme von ukrainischen Geflüchteten zu beteiligen.

Baden-Württemberg habe schon jetzt eineinhalb Mal so viele Flüchtlinge aufgenommen wie in der Migrationskrise 2015. Laut Migrationsministerium wurden bisher über 134.000 Geflüchtete aus der Ukraine in Baden-Württemberg erfasst. Hinzu kommen zusätzlich über 19.000 Asylsuchende, die im Land verbleiben werden sowie weitere 2800 Geflüchtete aus humanitären Aufnahmeprogrammen. Das sind insgesamt etwa 156 000 Menschen. Im Jahr 2015 wurden rund 101.000 Asylsuchende im Südwesten registriert.

Kretschmann kritisierte, der Bund zweifle an den aktuellen Zahlen des Landes. »Es ist immer dieselbe Masche, an diesen Zahlen rumzumachen«, kritisierte Kretschmann. Er setze darauf, dass man sich bei der Ministerpräsidentenkonferenz mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) auch in dieser Frage einigen werde.

Walter sagte, die Kommunen steckten in einer »Überforderungsfalle«. Bund und Land bürdeten Städten, Gemeinden und Kreisen immer neue Aufgaben, Rechtsansprüche und Standards auf, ohne für eine ausreichende Finanzierung zu sorgen. Man brauche im Land dringend eine Debatte darüber, was vor- und was nachrangig sei. »Nicht alles, was wünschenswert ist, kann auch geleistet werden.«

Der Verbandschef forderte Kretschmann auf, schon bald auf höchster Ebene über Entbürokratisierung und den Abbau von Standards zu sprechen und zu entscheiden. Jedoch dürften die Ministerien hier im ersten Schritt nicht mitmachen, weil diese solche Vorschläge nur zerreden würden. »Wer einen Sumpf trockenlegen will, darf nicht die Frösche fragen.« Walter schlug eine Arbeitsgruppe aus Staats-, Finanz-, und Innenministerium mit den Kommunen vor.

Als Beispiel nannte Walter den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule ab 2026. Alle wüssten, »dass dies ein Ding der Unmöglichkeit« sei. Und trotzdem hätten Bund und Länder dies beschlossen, »weil Symbolpolitik inzwischen wichtiger ist als das Bohren dicker Bretter«.

Es sei auch nicht weiter hinnehmbar, dass die Kreise als »Ausfallbürge« für das Land bei der Finanzierung der Krankenhäuser einspringen müssten. Für den Kauf von medizinischen Geräten müssten die Kreise mittlerweile 50 Millionen Euro zuschießen. Das Land müsse sich auch überlegen, ob nicht eine »Abkehr von einer gesetzlich verankerten Mobilitätsgarantie« nötig sei. Mit der Garantie soll der öffentliche Nahverkehr auf dem Land deutlich ausgebaut werden.

Kretschmann zeigte sich grundsätzlich bereit für eine solche Debatte über Bürokratieabbau, warnte aber davor, schnelle Erfolge zu erwarten. »Wenn sie einsteigen wollen in eine Absenkung der Standards, müssen sie sagen wo.« Und dann müssten auch die Ministerien sofort beteiligt werden. »Die erste Adresse solcher Ansagen sind natürlich die Fachressorts.« Das Problem sei, dass bei vielen Fragen der Bund oder sogar die europäische Ebene beteiligt seien. Er versprach, sich nach dem Höhepunkt der Krise dem Bürokratieabbau zentral zu widmen. Kretschmann sagte aber auch, es sei nicht so, »dass die Landratsämter frei von Amtsschimmeln wären«.

© dpa-infocom, dpa:221024-99-242061/4