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Marian Schreier möchte Chef im Stuttgarter Rathaus werden

Anzug und weiße Sneakers  auch das sind Markenzeichen des Kandidaten Marian Schreier.  FOTO: LICHGUT/GEA
Anzug und weiße Sneakers auch das sind Markenzeichen des Kandidaten Marian Schreier. FOTO: LICHGUT/GEA
Anzug und weiße Sneakers auch das sind Markenzeichen des Kandidaten Marian Schreier. FOTO: LICHGUT/GEA

STUTTGART. Das Plakat mit dem melancholisch wirkenden OB-Kandidaten vor pinkfarbenem Hintergrund hat seine Wirkung. Ein Passant in der Stuttgarter Königstraße stoppt, lässt den Blick auf den realen Menschen neben dem Plakat schweifen und gerät förmlich aus dem Häuschen. »Was? Sind Sie das wirklich? So jung sind Sie?«, staunt er. Marian Schreier lächelt in seiner typischen Art.

Die ist im Kleinen ein Ausgleich dafür, dass dieser OB-Kandidat bei manchen Auftritten, etwa beim Livestream von »Team Tomorrow«, nicht gerade mit Signalen der Empathie klotzt, während beispielsweise der SPD-Mitbewerber Martin Körner förmlich den Strahlemann gibt.

Da steht er nun also und lächelt, Marian Schreier. 145 Straßenkilometer entfernt von hier, in Tengen im Kreis Konstanz, ist er Bürgermeister. Ein Freund hatte ihn vor gut fünf Jahren darauf hingewiesen, dass die Kleinstadt einen neuen Bürgermeister brauchte. Schreier, mit 25 Jahren gerade alt genug für die Kandidatur, trat an – und gewann mit 70,56 Prozent der Stimmen. Danach machte er eilends den Führerschein und startete durch. Und nun, fünf Jahre später, will er in Stuttgart den Grünen Fritz Kuhn beerben, der nicht mehr antritt.

Schreier zieht es heim. Dorthin, wo er aufwuchs, wo er das Eberhard-Ludwigs-Gymnasium besuchte, in dem schon Georg Wilhelm Friedrich Hegel oder Vicco von Bülow alias Loriot die Schulbank drückten. Dorthin, wo er sich im Debattierclub übte und wo er das Studium von Politik- und Verwaltungswissenschaften anpeilte, das er dann in Konstanz und England absolvierte. Daheim gebe es viel zu tun, meint Schreier.

Oberbürgermeister von Stuttgart mit nur 30 Jahren? Vom Rathaus einer 4 500-Seelen-Stadt in das einer Großstadt von 620 000 Einwohnern? Da schluckt man erst einmal. Und schaut man sich die Kleinstadt Tengen an, wirkt das Ansinnen noch abenteuerlicher. Das dortige Rathaus hat ungefähr die Größe eines voluminösen Doppelwohnhauses. In der Verwaltung arbeiten um die 100 Personen, noch nicht mal ein Hundertstel der Stuttgarter Belegschaft. Kurzum, im Wahlkampf kann Schreier zwar legalerweise sagen: »Aktuell bin ich bereits Bürgermeister.« Er kommt einem aber eher wie der Versuchsleiter eines Minilabors vor, der nun testen will, ob draußen im großen Maßstab alles genauso funktioniert. Natürlich könnte man nun einwerfen, im Großen laufe es prinzipiell auch nicht anders als im Kleinen, nur dass man es halt mit hohen Summen und mit dem Daimlerchef statt mit dem Kleinunternehmer zu tun hat. Und kommt es nicht vor allem auf Vor- und Ausbildung und auf die Statur an? Schreier hat darauf schon mal proaktiv geantwortet. »Der Junge kann das«, steht auf seinem Plakat. Sich erst noch in einer mittelgroßen Stadt weitere Sporen zu verdienen, schied aus.

Der Vater ist Stiftskantor

Physisch ist Schreier von normaler Statur, nicht klein, aber kein Riese. 1,82 Meter. Sein Markenzeichen sind Anzüge, bevorzugt in Blau, und weiße Sneaker. Er ist kein Hurra-jetzt-komm-ich-Typ, eher ein gut erzogener Junge aus gutem Hause. Die Eltern sind beide bekannte Musiker, sein Vater ist der ehemalige Stiftskantor Manfred Schreier, seine Mutter eine Opernsängerin. Der junge Schreier ist höflich, vielleicht etwas scheu, aber er geht dennoch auf Menschen zu und kann zuhören. Mit seinem Habitus könnte er auch als Junger Liberaler durchgehen.

Dass Marian Schreier eigentlich in der SPD ist, rückt er allerdings nicht ins Rampenlicht, dürfte er bei der Gelegenheit auch nicht. Fast hätten ihn die Sozialdemokraten, wenn das nicht so schwierig wäre, ausgeschlossen.

Schon im November 2019 hatte sich Schreier zum (parteiunabhängigen) OB-Kandidaten ausgerufen und später erklärt, er hätte gar nie SPD-Kandidat werden können. Die Kreispartei sei nämlich früh auf Martin Körner festgelegt gewesen. Tatsächlich war es wohl das schiere Kalkül. Denn bei einer offenen Feldschlacht hätte er unterliegen und dann unmöglich mehr antreten können. Und ohne Partei kandidiert es sich vielleicht aussichtsreicher. Auch da schimmert einige politische Erfahrung durch. Denn nach seinem Studium war Schreier im Bundestag als Mitarbeiter von Peer Steinbrück tätig und arbeitete ihm für seine Reden zu. Die Luft der großen Politik hat er also schon geschnuppert.

»Der Junge« ist er schon lang: »Der Junge, der Wahlkampf kann« (Zeit-Online, März 2015) und »Der Junge, der Bürgermeister kann« (Rheinische Post, Juli 2015). Den Stempel trägt er noch immer, obwohl das vormals etwas rundliche Gesicht nun kantiger ist. Es passiert halt viel im Leben. Auch, wenn man erst 30 ist. Von der Frau, mit der er als gerade gewählter Bürgermeister Ende Mai 2015 durch das Spalier der Freiwilligen Feuerwehr Tengen schritt, ist er mittlerweile getrennt. Mit der Altersfrage spielt Schreier aber auch selbst immer noch. Damit versucht er, bei jungen Wählern besonders zu punkten. So betont er, dass es etwa im Klimaschutz um Lösungen für künftige Generationen gehe. Dafür sollten junge Menschen Verantwortung übernehmen. Das muss ältere Menschen ja nicht abhalten. Denn Schreier sagt auch, die Frage sei doch, ob jemand das Gemeinwesen weiterbringen könne. »Kompetenz ist keine Altersfrage.«

In seinem 20-seitigen Programm legt er den Finger in Stuttgarter Wunden und lotet Pfade in die Zukunft aus. Er plädiert für eine neue, positive Vision für Stuttgart. So ein Leitbild könne aber nicht erlassen werden. Das müsse man mit der Bürgerschaft transparent erarbeiten. Als Ort der Handlung und Information, sozusagen als Wiege des Leitbildes, schlägt er das Stadtpalais vor. Wie es gehen könnte, hat er im Minilabor Tengen erprobt. Mit den Bürgern bestimmte er in einem Beteiligungsverfahren die kommunalen Ziele. Das mündete in das Projekt Ärztehaus zur Sicherung der Gesundheitsversorgung, mit einer Genossenschaft umgesetzt.

In Stuttgart macht Schreier »nach Jahren des Stillstands« ein Bedürfnis nach einer frischen Perspektive aus. Er verspricht keine Revolution, aber eine Kommunalpolitik auf der Höhe der Zeit – und auf Augenhöhe mit den Bürgern.

Er möchte auch einen digitalen und einen physischen Servicedesk im Rathaus, an dem Bürger Anliegen platzieren können. Den Bearbeitungsstand soll man online checken können, Nachrichten dazu über Whatsapp erhalten. Wichtiges für die Stadt würde er künftig gern mit Podcasts erläutern. Das achtlose Müllwegwerfen will er von Waste-Watchern sanktionieren lassen. Sauberkeit und Ordnung und die Frage, wie ihre Stadtviertel trotz Pandemie lebendig bleiben, seien den Menschen wichtig, hat er im Wahlkampf gelernt.

Vorbild Zürich

Bei der Rettung der (Automobil)Industrie müsse die Stadtpolitik mitwirken, aber die Industrie müsse sich »erst mal selbst neu erfinden«. Für die Mobilitätswende gelte es, weiße Flecken im Stadtbahnnetz zu schließen – »aber das Auto gehört zum Mobilitätsmix«.

In der Wohnungsbaupolitik plädiert er für einen Neustart und mehr als 1 800 Neubauwohnungen pro Jahr. In der Wohnungsbaupolitik will der Jungpolitiker einen Teil des Grundstücksmarktes mit »gemeinwohlorientierter Bodenpolitik« der Spekulation entreißen. Wie es in Zürich geschehen ist. Die Stadt an der Limmat ist Teil seiner Roadmap. Schließlich sind dort Genossenschaftsmodelle im Wohnungsbau umgesetzt, so wie sie Schreier vorschweben. (GEA)