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Kretschmann: Bei Flüchtlingsaufnahme an Kapazitätsgrenze

Die Flüchtlingslage wird mit jedem Tag brenzliger. In den Kommunen sei kein Platz mehr, heißt es. Kritik an den vergleichsweise hohen Sozialleistungen für ukrainische Flüchtlinge wird lauter. Und nun erreichen auch noch erste russische Kriegsdienstverweigerer das Land.

Pressekonferenz zum Haushalt von Baden-Württemberg
Winfried Kretschmann spricht im Landtag bei einer Regierungs-Pressekonferenz. Foto: Bernd Weißbrod
Winfried Kretschmann spricht im Landtag bei einer Regierungs-Pressekonferenz.
Foto: Bernd Weißbrod

Die Flüchtlingslage im Land spitzt sich zu. Das Land komme an seine Kapazitätsgrenzen, warnte Ministerpräsident Winfried Kretschmann am Dienstag in Stuttgart. Seit Beginn des Angriffskriegs habe das Land 128 000 Menschen allein aus der Ukraine Zuflucht gewährt, so der Grünen-Politiker. Darüber hinaus hat der Südwesten laut Justizministerium 15 400 Asylsuchende aus anderen Ländern aufgenommen. Die Belastung für die Erstaufnahmestellen und Kommunen könnte mit der angekündigten Teilmobilmachung von Präsident Wladimir Putin weiter zunehmen: Nach Angaben der Stadt Stuttgart haben bereits die ersten Männer aus Russland Antrag auf Asyl gestellt, die behaupteten, Kriegsdienstverweigerer zu sein.

Eine kleine Gruppe von Männern habe sich am Freitag in der Jägerstraße gemeldet, wo Sozialamt und Ausländerbehörde seien, sagte ein Sprecher der Landeshauptstadt. Man habe sie an die Landeserstaufnahmestellen verwiesen, weil es noch keine rechtlichen Vorgaben für Deserteure gebe und damit keine Möglichkeit der Stadt, ihnen zu helfen. »Wir wissen nicht, was aus den jungen Männern geworden ist.« Die »Stuttgarter Zeitung« hatte zuerst darüber berichtet.

Zahlen zu Kriegsdienstverweigerern aus Russland und der Ukraine liegen dem Justizministerium nicht vor. Die Gründe für ein Asylbegehren seien nur gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) geltend zu machen, hieß es am Dienstag. Im laufenden Monat seien 22 russische Staatsangehörige registriert worden, die sich wegen eines Asylverfahrens in Baden-Württemberg aufhalten. Von Januar bis August waren es 89 Menschen aus Russland.

»Die Kapazitäten sind sehr angespannt«, sagte der für Migration zuständige Staatssekretär Siegfried Lorek (CDU) der Deutschen Presse-Agentur. Land und Kommunen stünden vor immensen Herausforderungen. Das Justizministerium geht davon aus, dass bislang rund 80 Prozent der Geflüchteten aus der Ukraine in Baden-Württemberg privat untergebracht sind. Städte und Landkreise im Südwesten sind schon vor einem Monat dazu übergegangen, kurzfristig weitere Hallen als Notunterkünfte zu belegen. Nach einer Auswertung des Justizministeriums sind 64 Prozent der Geflüchteten aus der Ukraine weiblich, davon 73 Prozent über 18 Jahren. 36 Prozent sind männlich, davon 48 Prozent über 18 Jahre.

Je länger der Krieg gehe, desto höher sei die Wahrscheinlichkeit, dass die Geflüchteten aus der Ukraine auf Dauer hierblieben, sagte Lorek. Zudem herrsche nicht mehr die Solidarität in der heimischen Bevölkerung wie noch zu Beginn des russischen Angriffskriegs.

»Die Unterstützungswelle nimmt ab. Es haben sich viele engagiert, aber es kommen wenige Helfer neu dazu«, sagte Lorek. Das wird nach Einschätzung des Staatssekretärs perspektivisch auch nicht besser. »Das Verständnis für Hilfe und Aufnahme wird weniger, wenn die Menschen den Gürtel enger schnallen müssen«, sagte Lorek mit Blick auf Energiekrise, Inflation und den womöglich harten Winter.

Zunehmend wird zudem Kritik aus den Kommunen und aus der CDU laut an den vergleichsweise hohen Sozialleistungen für ukrainische Flüchtlinge. »Es ist wichtig, dass die Menschen unterkommen, dass wir ihnen Schutz bieten, aber bei dem Leistungsniveau müssen wir uns überlegen, was realistisch ist und Sinn macht – auch im europäischen Kontext«, sagte Lorek. »Einen Pull-Effekt kann man nicht ausschließen.« Laut Europäischer Registrierungsplattform seien 45 000 der in Deutschland angekommenen ukrainischen Geflüchteten bereits in einem anderen Land registriert gewesen. Lorek warnt: »Wir dürfen nicht die Leistungsfähigkeiten überfordern. Wir können nicht alle russischen Kriegsdienstverweigerer aufnehmen.«

Lorek drängte darauf, dass europäische Nachbarländer wie Frankreich mehr Flüchtlinge aus der Ukraine aufnehmen müssten. »Der Bund muss auf eine gerechte Verteilung drängen, wir brauchen eine europäische Verteilung.« Seit Kriegsausbruch hätten rund 1 003 000 Menschen aus der Ukraine Deutschland als Aufnahmeland gewählt, sagte der Staatssekretär mit Bezug auf das Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Das seien zehn Mal mehr Menschen als Frankreich (101 000) bislang aufgenommen habe.

Kretschmann allerdings wies die Kritik an vermeintlich zu hohen Sozialleistungen zurück. Es gebe keine belastbaren Zahlen dafür, dass Ukrainer deshalb aus anderen EU-Ländern nach Deutschland kämen. Mit Blick auf die Äußerung des Unionsfraktionsvorsitzenden Friedrich Merz, der im Zusammenhang mit Ukraine-Flüchtlingen von »Sozialtourismus« sprach, sagte Kretschmann, man sollte in der Debatte Worte wählen, die man am nächsten Tag nicht bereuen müsse. Merz hatte sich danach für seine Äußerung entschuldigt.

Kretschmann reagierte auch erbost auf die Kritik der Grünen Jugend an der Asylpolitik des Landes. Die Jugendorganisation hatte beim Landesparteitag der Südwest-Grünen am Wochenende die Asyl- und Migrationspolitik der Landesregierung insbesondere mit Blick auf die Abschiebepraxis als »katastrophal« bezeichnet. Die Grüne Jugend hatte kritisiert, dass die Landesregierung sich hinter einzelnen Ministerien verstecke - »oder hinter der abscheulichen Abteilung des Regierungspräsidiums Karlsruhe«, die die Abschiebungen organisiere.

Er könne solche Angriffe nicht akzeptieren, sagte Kretschmann. Land und Bürgerschaft hätten viel geleistet für Aufnahme und Betreuung der Flüchtlinge. In einer solchen Situation einen »Frontalangriff« auf die Flüchtlingspolitik der Landesregierung zu machen, sei »abwegig«. Er könne damit umgehen, wenn die Grüne Jugend ihn kritisiere - das geschehe nicht zum ersten Mal. Was aber gar nicht gehe, seien beleidigende Angriffe auf Behörden. Diese müsse er entschieden zurückweisen. Die Wortwahl der Grünen Jugend sei inakzeptabel, sagte der Ministerpräsident.

UNHCR zur Ukraine

© dpa-infocom, dpa:220927-99-918718/4