Container, Hallen, Hotels oder zur Untermiete - alles egal: Städte und Gemeinden suchen derzeit verzweifelt nach Wohnungen und Schlafplätzen für Tausende Flüchtlinge. »Die Lage ist ausgesprochen ernst«, sagte Landesmigrationsministerin Marion Gentges am Mittwoch nach einer Schalte mit Vertretern der Städte und Gemeinden im Land. »Die Kommunen senden einen deutlichen Hilferuf.« Die Verwaltungen seien nach eigenen Angaben »an der Belastungsgrenze«, zitierte Gentges aus der Schalte, deren lange Teilnehmerliste mit etwa 650 Rathauschefs und Kabinettsmitgliedern, Geschäftsführern und Landräten einiges über die Dringlichkeit verrät.
»Was in den nächsten Wochen und Monaten vor uns liegt, ist mindestens eine Herkulesaufgabe«, sagte Gentges der Deutschen Presse-Agentur. Die CDU-Politikerin schloss auch nicht aus, dass ähnlich wie vereinzelt im März und vor allem 2015 erneut Turnhallen, leerstehende Hostels, Hotels oder mobile Einrichtungen auf Campingplätzen genutzt werden müssen.
Seit dem Beginn des Kriegs im Februar sind laut Ministerium allein aus der Ukraine rund 115.000 Menschen nach Baden-Württemberg gekommen, von denen aber rund 80 Prozent privat untergebracht werden konnten. Weitere 10.500 Menschen aus Staaten wie Syrien, der Türkei und Afghanistan sind im laufenden Jahr nach der Registrierung im Land geblieben.
Im Vergleich zur ersten Woche im Juli sei die Zahl der täglich aus der Ukraine kommenden Menschen um rund 50 Prozent gestiegen, die Zugänge der Asylsuchenden seien ebenfalls auf einem hohen Niveau, sagte Gentges. Insgesamt liege die im laufenden Jahr registrierte Zahl der Hilfesuchenden im Südwesten bereits über der aus dem gesamten Jahr 2015.
Nach den Gründen für den Anstieg befragt, sagte Gentges: »Es sind alle Zugangswege in ähnlichem Maße gestiegen.« Das wird nach ihrer Einschätzung auch so bleiben: »Wir wissen aus den Erfahrungen der vergangenen Jahre, dass die Zugänge im Herbst wieder zunehmen werden«, sagte Gentges. »Wir haben daher keinen Grund anzunehmen, dass der Anstieg der Zahlen abbricht.«
Deutlich sei aber, dass Menschen nicht in allen Fällen aus rein politischen Gründen nach Baden-Württemberg kämen. »Es gibt bei uns mehr Sozialleistungen als in anderen Ländern. Und deshalb treffen wir auch häufig Menschen, die bereits in anderen Staaten Schutz gefunden hatten, die aber aus wirtschaftlichen Gründen weitergereist sind«, sagte sie. Der Bund habe zuletzt »Fehlanreize« gesetzt durch das Ausweiten der Sozialleistungen.
Hier knüpft auch die Kritik der Landkreise und Städte an. »Ohne den sogenannten Rechtskreiswechsel und die damit verbundenen höheren Sozialleistungen wären wir als Kommunen nicht jetzt vor die Situation gestellt, Notunterkünfte vorzubereiten und bereitzustellen«, kritisierte der Präsident des Landkreistags, der Tübinger Landrat Joachim Walter. Es sei den Menschen nicht zu verübeln, dass sie über andere Länder nach Deutschland kämen. Die Anziehungskraft der im europäischen Vergleich höchsten Sozialleistungen in Deutschland mache aber alle Versuche einer gleichmäßigen Verteilung von Geflüchteten in Europa zunichte.
Der Präsident des Gemeindetags, Steffen Jäger, sieht die Kommunen Dauerkrisenmodus. »Ohne Flexibilisierung bei den rechtlichen Rahmensetzungen, ohne einen spürbaren Abbau von Standards und ohne eine konsequente Aufgabenkritik wird es zu einer Überlastung der kommunalen Ebene und der dort tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kommen«, warnte er. Für den Städtetag forderte dessen Geschäftsführerin Gudrun Heute-Bluhm Mittel für den Bau von regulärem Wohnraum. »Die Zivilgesellschaft braucht Perspektiven, dass ihr Einsatz nicht dauerhaft staatliche Vorsorge ersetzen muss«, sagte sie.
Sorgenvoll schaut Gentges auf die Stimmungslage im Herbst: »Die Akzeptanz der Gesellschaft könnte durchaus leiden, denn die Menschen sind derzeit ja auch an anderen Stellen stark belastet«, sagte sie. »Ihnen wird sehr viel zugemutet durch die vielen Krisen und das kann auf die Stimmung der Menschen schlagen.« Herumgesprochen habe sich die Bedeutung des Themas aber nur bis in die Rathäuser: »Das ist zwar nicht auf dem Marktplatz angekommen, sehr wohl aber in den Amtsstuben.«
Wichtig werde es nun, neben finanziellen Lösungen auch die bürokratischen Hürden in den Blick zu nehmen. »Da geht es dann unter anderem um baurechtliche Themen oder den Betreuungsschlüssel in der Kinderbetreuung. Die Kommunen wünschen sich hier mehr Flexibilität, um mehr Flächen nutzen zu können.« Auch den Bund sieht Gentges in der Pflicht: »Land, Landkreise und Kommunen haben keinen Einfluss auf die Zugangszahlen.« Sie fühlten sich alleine gelassen.
Derzeit werden laut Ministerium unter anderem in Freiburg vier Containeranlagen errichtet mit insgesamt 160 Plätzen. In einem früheren Baumarkt sollen zudem 800 Menschen Platz finden. Außerdem prüfen die Regierungspräsidien, ob Messehallen freistehen und gemietet werden können. Die Miete der Messe Sindelfingen wurde mit ihren 900 Plätzen über den Herbst hinaus bis Februar verlängert.
Die Suche nach Wohnraum ist unter anderem kompliziert, weil viele Unterbringungskapazitäten in den Kommunen nicht frei sind und Menschen darin wohnen, die schon 2015 in den Südwesten gekommen sind. Außerdem drängt die Zeit, denn Kommunen sind gesetzlich verpflichtet, Asylbewerber oder Flüchtlinge nach spätestens sechs Monaten aus der vorläufigen Unterbringung dauerhaft unterzubringen. »Ende August - also ein halbes Jahr nach Beginn des Krieges - stehen also deutliche Verlegungen in die Gemeinden an«, sagte Gentges.
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