Irgendwann an diesem Nachmittag im vergangenen Juli müssen die Nerven des Mannes blank gelegen haben. Warum er den behinderten Sohn seiner Freundin schließlich gepackt, geschüttelt und tödlich verletzt haben soll, das bleibt aber auch nach dem ersten Prozesstag gegen den angeklagten 25-Jährigen unklar. Denn der gebürtige Böblinger will sich erst in knapp drei Wochen (9. Mai, 9.15 Uhr) äußern, wenn die Schwurgerichtskammer des Landgerichts erneut über die Gewalttat verhandelt und auch ein Sachverständiger erwartet wird. Ein Urteil soll nicht vor Ende Mai gesprochen werden.
Der wegen Totschlags angeklagte Mann soll laut Staatsanwaltschaft im Sommer 2020 in Sindelfingen den schwer behinderten Sohn seiner Freundin durch heftiges Schütteln umgebracht haben, während er eigentlich auf ihn und den kleinen Bruder aufpassen sollte. »Das Kind konnte kaum sehen, nicht sprechen und sich nur stark eingeschränkt auf dem Rücken robbend fortbewegen«, sagte der Staatsanwalt am Mittwoch über das Opfer. Vier Tage nach jenem Nachmittag war der Junge an den Folgen eines Hirnschadens gestorben.
»Bedenken oder Mitleid mit dem Kind hatte er nicht«, sagte der Staatsanwalt zum Prozessauftakt. Auch habe der Mann die Gefahr gekannt, denn bereits vor vier Jahren habe es einen ähnlichen Vorfall gegeben. Nach der Tat habe der 25-Jährige seine Freundin per Chatnachricht informiert und ein Foto des Kindes dazugestellt. Als die alarmierte Mutter zu Hause eintraf, fand sie den Jungen in ein Handtuch gewickelt vor, leblos, wie der Vertreter der Anklage weiter sagte. Es habe zunächst wiederbelebt werden können, die Verletzungen seien aber letztlich tödlich gewesen.
Ein Schütteltod wie beim Jungen aus Sindelfingen ist in Deutschland alles andere als ein Einzelfall. Immer wieder müssen sich Strafkammern mit den oft tödlichen Folgen starken Schüttelns auseinandersetzen - sehr oft müssen die Verantwortlichen für viele Jahre ins Gefängnis. Nicht selten verlieren Eltern die Nerven und schütteln ihr Baby oder Kleinkind heftig, weil es zum Beispiel anhaltend schreit.
Schon seit einigen Jahren versucht ein Bündnis gegen Schütteltrauma über die Gefahren aufzuklären. Nach seinen Schätzungen werden deutschlandweit jährlich zwischen 100 und 200 Säuglinge und Kleinkinder mit Schütteltraumata in Kliniken gebracht. Jedes vierte derart misshandelte Kind stirbt in der Folge, die meisten Überlebenden erleiden dauerhafte Schäden. Aber die Dunkelziffer ist hoch, da leichtere Fälle schwer zu erkennen sind, wie das Nationale Zentrums Frühe Hilfen (NZFH) in der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung mitteilt.
Nach einer bereits zwischen 2006 und 2009 erstellten Studie (ESPED oder »Erhebungseinheit für Seltene Pädiatrische Erkrankungen in Deutschland«) sind Väter für bis zu 60 Prozent der Fälle verantwortlich, Lebensgefährten der Mutter tragen in neun Prozent der Fälle die Schuld. Besonders betroffen sind Kinder zwischen sechs und acht Wochen, es können aber auch ältere Jungen und Mädchen durch Schütteln zu Tode kommen.
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