Da verschwindet das Parfümfläschchen schon mal heimlich in der Hosentasche, die Flasche wird verstohlen unter die Jacke gesteckt und das eine Hemd in der Umkleidekabine über das andere gezogen - wenn niemand schaut im Supermarkt, im Kaufhaus oder in der Boutique, lassen Ladendiebe in Baden-Württemberg Produkte im Wert von Hunderten von Millionen Euro mitgehen. Und in vielen Fällen kommen sie nicht nur ein Mal. Selbst ein Hausverbot hält sie nur selten auf. »Wir fühlen uns hilflos und vom Rechtsstaat allein gelassen«, sagt Sahin Karaaslan, der in Mannheim und Heidelberg vier Supermärkte leitet.
Wie hat sich die Zahl der Ladendiebstähle entwickelt?
Ladendiebe haben im vergangenen Jahr so oft zugegriffen wie seit langem nicht mehr. 47.052 Fälle wurden nach Angaben des Innenministeriums gemeldet, das ist der höchste Wert seit 2005 und ein Anstieg von fast einem Viertel (24,4 Prozent) im Vergleich zum Vorjahr. In den beiden Corona-Jahren 2020 und 2021 war die Zahl der Ladendiebstähle nicht zuletzt aufgrund der pandemiebedingten Ladenschließungen deutlich zurückgegangen.
Bleiben viele Ladendiebstähle unentdeckt?
Zumindest fließen sie nicht in die Statistik. Daher dürfte es sich bei der genannten Zahl der Ladendiebstähle nur um die Spitze des Eisbergs handeln. Das EHI Retail Institute (EHI) schätzt, dass weniger als zwei Prozent der tatsächlichen Fälle angezeigt werden. Von diesen werden aber die meisten aufgedeckt, meist auch auf frischer Tat. Mit 90,1 Prozent im Jahr 2023 liegt die Aufklärungsquote nach Angaben des Innenministeriums »auf einem sehr hohen Niveau«.
Welchen Schaden richten Ladendiebe im Handel an?
Das EHI rechnet mit einem entstandenen Schaden durch Ladendiebstähle im Jahr 2023 von bundesweit 2,8 Milliarden Euro durch Kundendiebstähle vor allem im Lebensmittel- und im Bekleidungseinzelhandel sowie in Drogeriemärkten. In Baden-Württemberg beziffert das Innenministerium die Schadenshöhe auf 5.770.252 Euro im vergangenen Jahr, das ist ein Anstieg von 28 Prozent im Vergleich zum Jahr zuvor. Viel zu wenig, sagt der baden-württembergische Handelsverband und bezieht sich auf die EHI-Studie. Er spricht von 700 Millionen Euro Verlust pro Jahr.
Wie können sich Geschäfte schützen?
Der Handel rüstet zwar mit Ladendetektiven, Kameraüberwachung, gesicherter Ware und zeitweise Türstehern auf, doch das ist teuer und hält die Täter genauso wenig ab wie Hausverbote. »Da werden Ladendiebe erwischt, bekommen Hausverbot und kurze Zeit später tauchen sie wieder auf und greifen zu«, sagt Swen Rubel, Geschäftsführer des Handelsverbands Nordbaden. Auch das Risiko tätlicher Angriffe steige. Am Hochrhein vermeldet der Handel zudem noch das Problem von Banden aus Frankreich. Supermarkt-Leiter Karaaslan beschäftigt zwei Ladendetektive am Tag allein in seiner Filiale in Mannheim-Käfertal. Ein teures, aber lohnendes Geschäft sei das, angesichts von bis zu neun Dieben pro Tag.
Gibt es so etwas wie den typischen Ladendieb?
Es ist zumindest auffällig, dass der klassische Ladendieb, der mal einen Parfümflakon mitgehen lässt, eher seltener wird und sich die Ladendiebe professioneller organisieren. So handeln drei von vier mutmaßlichen Ladendieben bei einfachen Fällen allein, beim besonders schweren Ladendiebstahl - also zum Beispiel mit Werkzeugen oder Waffen oder durch einen Einbruch - ist es fast die Hälfte (47,5 Prozent). Hier geht der überwiegende Teil der Tatverdächtigen also gemeinsam mit mindestens einem Komplizen vor. »Sie werden immer hemmungsloser und stopfen sich einfach den Rucksack voll«, erzählt Karaaslan.
35.604 Tatverdächtige hat die Polizei erfasst, von denen jeder Fünfte schon mal häufiger zugreift. Mehr als jeder zweite Ladendieb hat keinen deutschen Pass. Laut Statistik hatten im vergangenen Jahr 46 Prozent der Tatverdächtigen die deutsche Staatsangehörigkeit, weitere 8,3 Prozent die rumänische und 7,6 Prozent die ukrainische.
Gehören auch Kinder und Jugendliche zu den Verdächtigen?
Ja, aber die gute Nachricht dabei: Die Zahl der verdächtigten Kinder und Jugendlichen ist im vergangenen Jahr bei einfachen Ladendiebstählen zurückgegangen, es gehörten noch 4.234 Kinder und 6.650 Jugendliche dazu. Und die schlechte? Bei den besonders schweren Fällen wird wohl zunehmend auch auf jüngere Komplizen vertraut. Ihre Zahl hat sich zwischen 2005 und 2023 fast verfünffacht von 33 auf 164 bei den tatverdächtigen Kindern und von 95 auf 473 bei den Jugendlichen. »Das spricht für die uns mitgeteilten Beobachtungen, wonach professionelle Diebesbanden vermehrt auf Kinder und Jugendliche setzen«, sagt der FDP-Landtagsabgeordnete Nico Weinmann.
Wie gehen sie meistens vor?
Bekannt ist, dass sehr gut organisierte Gruppen oft in drei Wellen vorgehen: Zunächst wird die Ware im Laden ausgeguckt, interessante und gesicherte Artikel werden fotografiert. In einer zweiten Welle schneiden weitere Täter die Sicherungen heraus, bevor in einem dritten Schritt die jungen und schnellen Diebe auftauchen, die die Beute aus dem Laden bringen. Andere Gruppen haben Komplizen abgestellt, die etwa das Verkaufspersonal beobachten oder ablenken.
Was wird vor allem geklaut?
Der Handelsverband Nordbaden spricht von einem »Breitenphänomen«, das alle Branchen betreffe, besonders aber die Supermärkte und Drogerien. Gestohlen werden vor allem Kosmetika, Nahrungsmittel, Alkohol, Getränke, Süßigkeiten, Hygieneartikel und Bekleidung.
Warum greift man eigentlich im Laden zu?
Das Innenministerium erklärt sich die steigende Zahl der Fälle unter anderem mit der Ressourcenmangellage Anfang des vergangenen Jahres, mit der zwischenzeitlich stark gestiegenen Inflation und damit einhergehenden Geldproblemen für bestimmte Bevölkerungsgruppen. Außerdem habe der Personalmangel im Einzelhandel die Überwachung der Läden erschwert.
Braucht es schärfere Strafen?
Zumindest nicht aus Sicht des Innenministeriums. »Die Strafrahmen in Abhängigkeit der Schwere der Tat werden aus polizeilicher Sicht für angemessen befunden«, heißt es dort. Es sei möglich, Diebstahl »effektiv und angemessen« zu sanktionieren. Landesjustizministerin Marion Gentges (CDU) hält den Strafrahmen für ausreichend. Sie macht den Erfolg aber an der Personalstärke in den Staatsanwaltschaften fest: »Wir können Straftaten nur verfolgen, wenn wir das Personal dafür haben«, sagt sie. Sie baut vor allem auch auf den abschreckenden Erfolg von schnellen Verfahren. »Es ist wie so oft ein Vollzugsdefizit«, sagt auch Rubel.
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