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Ende der Pandemie? Kretschmann pfeift Minister zurück

Nicht nur die FDP rieb sich die Augen: Sozialminister Lucha drängt den Bund, nach Ostern das Ende der pandemischen Phase einzuläuten. Eine Forderung mit weitreichenden Folgen. Doch dann wird der Minister zurückgepfiffen.

Winfried Kretschmann
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Bündnis90/Die Grünen). Foto: Felix Kästle
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Bündnis90/Die Grünen).
Foto: Felix Kästle

Mit seiner Forderung nach einem baldigen Ende der pandemischen Lage hat sich Baden-Württembergs Sozialminister Manne Lucha (Grüne) eine blutige Nase geholt. Regierungschef Winfried Kretschmann distanzierte sich am Donnerstagabend von seinen Minister. Auf die Frage, ob Luchas Brief an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) mit Kretschmann abgestimmt war, sagte ein Regierungssprecher der dpa in Stuttgart: »Nein, war er nicht.« Lucha ruderte am Abend teilweise zurück. Massiven Druck bekam der Minister dem Vernehmen nach auch von den Chefs der Koalitionsfraktionen Grünen und CDU, Andreas Schwarz und Manuel Hagel.

Lucha wollte auf Eigenverantwortung setzen

Zuvor hatte der Grünen-Minister in einem Schreiben an Lauterbach gefordert, der Bund solle Ende April - also nach den Osterferien - den Wechsel von der pandemischen in die endemische Phase einläuten. Lucha forderte damit einen Strategiewechsel für Ende April, bei dem es keine Tests und keine vorgeschriebene Quarantäne mehr gegeben hätte. Er schrieb unter anderem: »Das Verhalten sollte vielmehr in die Eigenverantwortung gegeben werden, für Erkrankte gilt weiterhin die Aufforderung, zu Hause zu bleiben.«

Ministerium bedauert »irreführenden Eindruck« des Schreibens

Am Abend erklärte sein Sprecher, die Inhalte des Schreibens hätten "offenbar einen falschen und irreführenden Eindruck vermittelt". Er ergänzte: "Wir erklären die Pandemie explizit nicht für beendet." Und: Es gibt keinen Strategiewechsel bei den Schutzmaßnahmen." Es sei dem Minister vor allem darum gegangen, die Gesundheitsämter von unnötigen Aufgaben zu entlasten und somit einen Wechsel beim Corona-Management anzuregen. "Dabei ging es um einen Impuls für eine gemeinsame mittel- und langfristige Perspektive zu einem Zeitpunkt, ab dem die Pandemie sich deutlich abschwächt."

Gesundheitsämter laufen nur noch hinterher

In dem Brief an Lauterbach schrieb Lucha, die Gesundheitsämter hätten wegen der rasanten Ausbreitung der Omikron-Variante keinen Einfluss mehr auf das Ausbruchsgeschehen. Kontaktpersonen hätten die Infektion oft schon weitergegeben, bevor ihr Status bekannt werde und die Quarantäne greifen könne. »Derzeit werden durch die Gesundheitsämter mit enormem Aufwand vielfach Meldedaten asymptomatischer Personen erfasst sowie Mehrfachmeldungen durch «Freitestversuche» symptomatischer Personen – aus denen keine weiteren Maßnahmen folgen und die das Infektionsgeschehen zudem zunehmend unzureichend abbilden«, schrieb der Minister.

Zudem seien viele Menschen als Geimpfte oder Genesene von einer Quarantäne befreit. Wenn die Gesundheitsämter von diesen überflüssigen Aufgaben entlastet würden, könnten sie sich darauf konzentrieren, Pflegeheime und Krankenhäuser zu beraten, um größere Ausbrüche zu vermeiden oder besser unter Kontrolle zu bringen, erklärte Lucha. Das Infektionsgeschehen solle künftig vor allem mit Hilfe von Meldedaten der Ärzte überwacht.

Liberale wundern sich über »Gesinnungswandel«

Die FDP hatte den Vorstoß begrüßt, sich aber auch verwundert gezeigt: Während Kretschmann sich beim Bund beschwere, es fehlten die Instrumente im Kampf gegen die Pandemie, wolle Lucha das Coronavirus nun wie jedes andere Grippevirus behandeln, sagte Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke und fragte: »Ist bessere Erkenntnis oder schiere Resignation der Grund für den plötzlichen Gesinnungswandel?« Er forderte das Land auf, die Regeln für die Quarantäne selbst abzuschaffen, dazu brauche es den Bund nicht.

Fast 40 000 Neuinfektionen an einem Tag

Zuletzt hatte Kretschmann immer wieder betont, die Pandemie sei noch nicht zu Ende. Der Grünen-Politiker zeigte sich verärgert darüber, dass die Ampel-Bundesregierung nahezu alle Corona-Schutzmaßnahmen auslaufen lassen will. Er verwies dabei auf die hohen Inzidenzen. Zuletzt gab es im Südwesten fast 40 000 Neuinfektionen an einem Tag, das entspricht einer 7-Tage-Inzidenz von über 1900. Wegen der hohen Dunkelziffer dürfte die Inzidenz im Südwesten deutlich höher liegen. Allerdings sind die Intensivstationen der Kliniken bei weiten nicht mehr so belastet, weil die Covid-Erkrankung bei Omikron im Vergleich zur Deltavariante in der Regel milder verläuft.

Landkreise wollen »Datenfriedhöfe« vermeiden

Für seinen Brief hatte Lucha Unterstützung vom Landkreistag erhalten. »Es ist wichtig und notwendig, die Berliner Politik mit den fachlichen Realitäten von vor Ort zu konfrontieren«, sagte Präsident Joachim Walter. »So macht es beispielsweise keinen Sinn, durch die tausendfache Meldung von positiven Testergebnissen beim Robert Koch-Institut Datenfriedhöfe zu schaffen, ohne dass daraus irgendwelche Konsequenzen gezogen werden.«

Impfangebot wird vorläufig stark eingedampft

Das Impfangebot soll Ende nächster Woche wegen fehlender Nachfrage massiv heruntergefahren werden. Zunächst soll es ab 1. April nur noch ein mobiles Impfteam und einen Stützpunkt pro Stadt- und Landkreis geben. Nach den Fraktionen von Grünen und CDU stimmte auch die Regierung dem Vorschlag des Sozialministeriums zu. Bisher hatte es etwa 350 mobile Teams und 135 Impfstützpunkte gegeben, die vom Land finanziert wurden. Die Koalition ist überzeugt, dass es mit der verbleibenden Struktur möglich sei, flexibel zu reagieren, wenn sich die Pandemie dramatisch zuspitzen sollte.

Mit dem verschlankten Impfkonzept will die Regierung die enormen Kosten drücken. Das neue Konzept soll bis Ende September knapp 55 Millionen Euro kosten. Das Geld soll aus der Rücklage für Haushaltsrisiken kommen. Das Impfen und Testen hat das Land im vergangenen Jahr mehrere Hundertmillionen Euro gekostet.

© dpa-infocom, dpa:220324-99-659822/4